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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin
Autoren: J. T. Geissinger
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unserer Heimat vertrieben und beinahe ausgelöscht.
    Die wenigen, die übrig blieben, erinnerten sich daran, wie sie gelebt hatten, ehe die menschliche Pest uns heimgesucht hatte, ehe wir durch geschickte Täuschungsmanöver geblendet und unseres Glanzes beraubt worden waren. Sie vereinbarten, wieder mitzuspielen, vorzugeben zu lügen, um zu überleben. Sie flohen aus ihrem geliebten Afrika und fanden andere Orte in der Welt, wo sie in kleinen Wäldern in der Stille und im Geheimen, fern von bösen Augen, existieren konnten.
    Äonen sind seither vergangen. Noch immer leben wir im Geheimen – durch Ehre, Verrat und gnadenlose Gesetze aneinander gebunden, die uns vor der größten Bedrohung retten sollen, die es für uns gibt: dem Vergessen.
    Ihr habt uns unser Königreich des Friedens und der Vollkommenheit gestohlen, ihr begehrlichen, ehrgeizigen, verräterischen Menschen. Obwohl wir lernten, neben euch zu existieren, obwohl wir wissen, wie wir überleben, obwohl wir vielleicht lächeln und nicken, wenn ihr an uns auf der Straße vorübergeht, sind wir stets – stets – bereit, euch das Herz aus dem Leib zu reißen.
    Nehmt euch also in Acht.

Bescheinigung der Ratsresolution Nr. 218.4.9
    Datum: 12. Juli 20…
    Betreff: Gesetzliche Verfügung über Morgan Marlena Montgomery, ordentliches Ratsmitglied der Kolonie von Sommerley, Hampshire/Großbritannien – beschuldigt des Hochverrats, der Mittäterschaft und weiterer Vergehen
    BESCHLUSS DER HINRICHTUNG
    In Erwägung nachstehender Gründe wurde das oben genannte Ratsmitglied folgender Verbrechen angeklagt und für schuldig befunden:
Hochverrat
Mittäterschaft
Vorsätzliche Körperverletzung
Hassdelikte
Schwere Körperverletzung
Terrorismus
    In Einbeziehung aller Gründe sind die aufgeführten Verbrechen einzeln oder in ihrer Gesamtheit nach dem Gesetz und seiner Anwendung mit dem Tode zu bestrafen.
    Dementsprechend halten wir, die unterzeichnenden Ratsmitglieder, die Angeklagte einstimmig für schuldig im Sinne der Anklage.
    Es ergeht folgendes Urteil: Die Beschuldigte wird mit dem Tode bestraft, der unverzüglich nach der Aufzeichnung und Unterzeichnung dieses Dokuments erfolgen soll.
    In Anwesenheit von Zeugen unterzeichne ich mit meinem Namen und dem Siegel des Rats am 12. Juli 20…
    Edward Viscount Weymouth
    Hüter der Geschlechter

1
    Hastig eilte Nathaniel die schmale, hölzerne Wendeltreppe zu den Zellen in den Keller hinab. In einer Hand hielt er eine große Taschenlampe, in der anderen einen elektrischen Viehtreiber.
    Es war kalt, feucht und so dunkel, dass der gelbe Strahl der Taschenlampe kaum die Schwärze zu durchdringen vermochte. Die Treppe war vor langer Zeit errichtet worden – annähernd zwei Dutzend Generationen von Alphas und ihre Familien hatten seitdem das Herrenhaus bewohnt. Die Stufen knarzten laut unter seinen Füßen. Seine Schritte wirbelten Staubwolken auf und störten kleine, unsichtbare Tiere, die hastig in den Spalten der mit Moos und Feuchtigkeit überzogenen Steinmauern verschwanden. Spinnweben strichen wie bleiche Gespenster über seine Wangen. Irgendwo in der Ferne – vielleicht tief unten – hörte er das gedämpfte Murmeln von plätscherndem Wasser.
    Beinahe verlor er auf einer unebenen Stufe das Gleichgewicht. Nervös strich er sich eine braune Locke aus dem Gesicht und hielt einen Moment lang inne. Er hatte diese Aufgabe nicht übernehmen wollen. Tatsächlich hasste er es, so etwas tun zu müssen. Doch da er erst an diesem Tag ausgewählt worden war, den leeren Sitz im Rat einzunehmen, war er nicht in der Position gewesen abzulehnen. Er musste das Ganze einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann die schreckliche Geschichte vergessen. Etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig.
    Er hasste Hinrichtungen. Das Blut. Die Schreie. Die kalten, ausdruckslosen Gesichter derjenigen, die sich zusammenfanden, um dem Ganzen beizuwohnen. Es war ein notwendiges Übel, aber er wünschte sich, dass man für sie eine Ausnahme gemacht hätte.
    Nicht dass er das Ganze infrage gestellt hätte. Das hätte er niemals gewagt.
    Am Fußende der Treppe blieb er erneut stehen und schnitt eine angewiderte Grimasse. Hier unten roch es nach Rost, Fäulnis und etwas Saurem, zutiefst Unangenehmem – etwas, das er lieber nicht genauer analysieren wollte. Seine Taschenlampe erhellte einen langen, primitiven Raum mit einem festgetretenen Erdboden, einer rauen Steindecke und einer Reihe fensterloser Holztüren auf beiden Seiten des Gangs,
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