Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
Vom Netzwerk:
ihr so viel Raum wie möglich zu lassen. Den elektrischen Viehtreiber hielt er noch immer ausgestreckt vor sich. Er musste den Blick nicht erst von diesen glühenden smaragdgrünen Augen abwenden, um zu wissen, wie heftig seine Hand zitterte.
    »Ich werde jetzt hier stehen bleiben und warten, Morgan – gleich hier, wo du mich gut sehen kannst. Und wenn du so weit bist, dann komm raus. Aber lass dir ruhig Zeit.« Bitte, bitte, ich will nicht hereinkommen und dich holen müssen. Ich habe mich letzten Monat verlobt und bin erst einundzwanzig … »Wenn du so weit bist, lass es mich wissen. Ich warte währenddessen.«
    Vorsichtshalber redete er nicht weiter, um nicht noch törichter zu klingen. Er wich noch ein paar Schritte zurück, bis er sich in sicherer Entfernung in der Nähe der Treppe befand. Nach einem Moment wurde das Knurren zu einem schlecht gelaunten Murren und dann zu einem verächtlichen Schnauben, ehe nichts mehr zu hören war.
    Nathaniel wartete bewegungslos. Es kam ihm so vor, als würde es eine halbe Ewigkeit dauern, während er die Ohren spitzte und auf das leiseste Geräusch einer Bewegung wartete. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er hoffte inbrünstig, dass Leander und die restlichen Ratsmitglieder inzwischen eingesehen hatten, wie dumm ihre Entscheidung gewesen war, und Hilfe zu ihm herunterschickten. Plötzlich wurde der kalte, dunkle Gang des Gefängnisses von einem angenehmen elektrischen Surren erfüllt, das sich wie eine warme Honigwelle über ihm ausbreitete. Die Luft roch jetzt nach Parfüm und fühlte sich wunderbar wohlig an.
    Mein Gott, sie war mächtig. Zu spüren, wie sie sich verwandelte, gab ihm das Gefühl, in der Nähe eines Blitzeinschlags zu stehen – genauso elektrisierend, genauso gefährlich. Sie roch nach etwas Warmem, Sinnlichem – wie Ahornsirup oder brauner Zucker, nur noch dunkler und edler. So ganz anders als seine Verlobte, die nach Flieder und Rosenwasser duftete und stets etwas mädchenhaft Süßes ausstrahlte …
    »Nathaniel«, schnurrte eine Stimme, die weiblich und sanft klang, so dunkel und verführerisch wie ihr Duft. Sie jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. In der Zelle war eine Bewegung zu spüren. Geräuschlos glitt eine Gestalt durch den dunklen Raum. Sie bewegte sich mit einer angeborenen Anmut und geschmeidigen Eleganz. Am Türrahmen erschien eine Hand und dann ein Gesicht, das wie aus dem Nichts auftauchte: hochgezogene Augenbrauen, riesige Mandelaugen und schöne, volle Lippen, die ein kleines Lächeln andeuteten, von dem er nicht sagen konnte, ob es traurig oder verächtlich wirkte. Sie trat aus der Zelle in den gelben Lichtstrahl seiner Taschenlampe. Nathaniel vermochte nicht, einen Laut der Verblüffung zu unterdrücken, als er sie sah.
    Sie war nackt. Unglaublich, vollkommen, nackt.
    Er vermochte nicht mehr klar zu denken. Der Viehtreiber in seiner Hand sank nach unten. Er wollte ein paar verwirrte Worte von sich geben, doch Erstaunen und Lust verschlugen ihm die Sprache: wunderschön, üppig, kurvenreich, seidenweich, schlank, süß, sanft, Begierde, ja, Begierde …
    »Nathaniel«, sagte sie erneut und schien sich über seine unverhohlene Bewunderung zu amüsieren. »Der Williams-Junge. Ich erinnere mich an dich.« Ihr Blick wanderte über seine Gestalt und strahlte ein Interesse aus, das ihm peinlich war. Dann lächelte sie. »Du bist erwachsen geworden.«
    Er konnte immer noch nichts sagen. Auch zusammenhängend zu denken schien ihm auf einmal unmöglich zu sein.
    »Ich habe leider keine Kleider«, fuhr Morgan fort und wies mit einer gemächlichen, eleganten Bewegung auf ihre spektakuläre Nacktheit. Er versuchte stammelnd zu antworten, doch sie achtete nicht darauf, was er sagen wollte. »Wärst du ein Schatz und würdest mir etwas Hübsches für meine Hinrichtung heraussuchen lassen?«
    Der große Saal von Sommerley war voller Leute. Es war laut und heiß. Die hohen, mit Blei eingefassten Fenster an der westlichen Wand standen weit offen und ließen die nach Heide duftende Luft eines englischen Sommers auf dem Land herein. Eine schwache Brise spielte mit den elfenbeinfarbenen Seidenvorhängen, half aber nicht, die vielen Körper zu kühlen, die sich Schulter an Schulter in dem großen, vergoldeten Raum aneinanderdrängten.
    Obwohl alle Bewohner der Kolonie dem Geschehen beiwohnen wollten, war das nicht möglich gewesen. Es gab einfach nicht genügend Platz. Der Rat hatte also beschlossen, die Plätze auszulosen. Die Gruppe

Weitere Kostenlose Bücher