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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz
Autoren: Brigitte Melzer
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    Das Leben stinkt, hörte ich die Menschen oft sagen.
    In meinem Leben nahm das Wort stinken in letzter Zeit vollkommen neue Dimensionen an, die leider nichts mit den Gerüchen zu tun hatten, die aus den Mülltonnen aufstiegen, die unter mir an der Hauswand standen.
    Kyriel Seelenfänger – das war bis vor ein paar Monaten mein Name gewesen. Kein perfektes Dasein, aber allemal besser als das, was aus mir geworden war, seit ich die Seiten gewechselt und meine Flügel zurückbekommen hatte. Jetzt war ich Kyriel Schutzengel. Ein Absturz ins Bodenlose, tiefer als der Weg von der Dachkante des in nächtlicher Ruhe erstarrten Starbucks, auf dem ich stand, hinunter auf das regennasse Pflaster der Pike Street.
    Nach unserem gescheiterten Aufbegehren gegen das Vorgehen des Hirten und einigen Jahrtausenden, die ich als gefallener Engel damit verbracht hatte, für Luzifer Seelen zu sammeln, war ich nun wieder Teil der himmlischen Heerscharen. Zu meinem Leidwesen auf einer Position, auf der ich weder sein wollte noch unseren Plänen von Nutzen war. Schutzengel! Allein das Wort reichte schon aus, damit ich Ausschlag bekam. Es war nicht nur eine Beleidigung, sondern auch ein deutliches Zeichen, dass mir der Hirte und seine Gesandten, ungeachtet meiner guten Taten, nicht vertrauten.
    Unrecht hatten sie damit allerdings nicht.
    Schutzengel zu sein war in der heutigen Zeit, in der jeder jedem misstraute, der undankbarste Job, den man haben konnte. In einer Großstadt wie Seattle, in der die Menschenin erster Linie an sich selbst und die Macht des Geldes – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge – glaubten, war es noch einen Tick schwieriger als auf dem Land. Dummerweise hatte ich mir weder meinen Einsatzort noch meinen Job ausgesucht noch konnte ich ihn einfach hinschmeißen oder mich versetzen lassen. Uriel hatte mir diese Scheiße eingebrockt. Jetzt musste der Erzengel sehen, wie er mit den Konsequenzen klarkam, denn für mich war es wichtig, diesen Job so schnell wie möglich loszuwerden und Zugang zum Himmel zu bekommen.
    Nachdem alle Versuche, Uriel davon zu überzeugen, mich von meinen Aufgaben zu entbinden, gescheitert waren, blieb mir nur noch die Möglichkeit, die Regeln zu brechen, und zwar gerade so weit, dass ich als Schutzengel untragbar wurde, aber noch lange nicht wieder verstoßen werden konnte. Dann bliebe selbst Uriel nichts anderes mehr übrig, als mich abzuziehen und nach Oben zu schicken. Ich wäre endlich dort, wo ich sein sollte und wo Luzifer mich haben wollte – als sein Auge und Ohr.
    Uriels Toleranz war jedoch größer, als ich angenommen hatte. Selbst wenn Japhael, der Oberste der Schutzengel, sich angesichts meines Benehmens die Haare raufte, zuckte der Erzengel nur nachsichtig die Schultern, sagte etwas von wegen, ich müsse mich eben erst einleben, und ließ den Vorfall auf sich beruhen. Japhael würde mich am liebsten sofort loswerden, doch um Uriel an die Grenzen seiner Geduld zu treiben, musste ich mir wohl noch ein wenig mehr einfallen lassen.
    Ich musste allerdings zugeben, dass es mir einen Höllenspaß machte, die entsetzten Gesichter meiner Mitengel, dieses spießigen Vorzeigegeflügels, zu sehen, wann immer ich die Regeln nach meinem Dafürhalten ausdehnte.
    Unglücklicherweise verfügte Akashiel, den sie mir alsAufpasser zur Seite gestellt hatten, über eine geradezu stoische Gelassenheit. Sobald mir ein Auftrag zugeteilt wurde, war er an meiner Seite, um sicherzustellen, dass ich nicht über die Stränge schlug. So war es auch jetzt. Er stand neben mir am Rand des Flachdaches, die kantigen Züge still wie die einer Statue, und wartete geduldig darauf, dass mein Auftrag in Form eines Teenagers unter uns auf der Straße auftauchte.
    Es war weit nach Mitternacht, in ein paar Minuten würden die ersten Busse ihre Fahrt antreten, im Augenblick jedoch waren die Straßen noch dunkel und leer. Die letzten Klubs hatten längst geschlossen, nur hin und wieder kam ein Taxi vorbei, noch seltener vereinzelte Nachtschwärmer, die selbst der strömende Regen nicht davon abhalten konnte, zu Fuß nach Hause zu gehen.
    Der Regen berührte mich nicht. Das Wasser vermochte meine Haut nicht zu erreichen, solange ich es nicht bewusst zuließ, und das hatte ich in diesem Fall ganz sicher nicht vor. Es war schon nervig genug, mir mitten in der Nacht auf einem Dach die Beine in den Bauch zu stehen und auf einen Typen zu warten, dessen Leben ohne mein Eingreifen heute enden würde. Die Arbeitszeiten waren
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