Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin
Autoren: J. T. Geissinger
Vom Netzwerk:
abverlangen würde als ihrem Körper. Etwas Poetisches, Tragisches oder morbide Elegantes.
    Wie falsch sie doch gelegen hatte. Wie naiv sie gewesen war.
    Das Ganze würde nicht rasch vorbei sein. Diese Leute gierten nach viel mehr als nach ihrem Blut: Sie wollten sie demütigen, sie wollten an ihr ein Exempel statuieren. Sie wollten ein Spektakel. Sie wollten ein Drama.
    Der schreckliche Apparat, die aufgebrachte, fauchende Menge. Ihr Herz verkrampfte sich in der Brust. In der Luft lag so viel Hass und Blutdurst, dass sie kaum zu atmen vermochte, ohne das Gefühl zu haben zu ersticken. Aus dem hinteren Teil des Saals hörte sie, wie jemand »Verräterin!« rief. Die Menge begann zu johlen und ebenfalls im Chor zu brüllen, während sie mit den Füßen aufstampfte.
    Sie betete, dass sie nicht zu früh zusammenbrechen und der Menge die Befriedigung geben würde, erleben zu dürfen, wie sie um Gnade flehte. In all den Wochen der Einzelhaft, der Entbehrungen und der Brutalität, denen sie in der Zelle ausgesetzt war, hatte sie es geschafft, nicht klein beizugeben.
    Aber das hier …
    Sie schluckte. Ihre Hände zitterten, und sie kämpfte gegen das Tier in sich an, das vor Angst zu fauchen begann. Ein Schrei stieg in ihrem Hals auf, während sie innerlich immer wieder die Worte wiederholte, die alles beinhalteten, woran sie glaubte – alles, nach dem sie sich so verzweifelt gesehnt hatte. Ihr lebenslanger Traum, der sich jetzt in eine Prophezeiung und in einen Fluch verwandelt hatte.
    In Freiheit leben oder sterben.
    Entweder das eine oder das andere. Sie hatte sich vor langer Zeit entschieden.
    Sie war nicht dazu geboren worden, sich zu verstecken. Sie war nicht dazu geboren worden, zahm und gefügig wie ein domestiziertes Tier zu leben, angekettet wie ein Hofhund. Sie hatte nie ganz dazu gepasst, selbst als Kind hatte sie sich immer danach gesehnt, mehr zu haben, obwohl sie nie ganz genau wusste, was sie damit meinte.
    In Freiheit leben oder sterben.
    Nun waren die Würfel gefallen.
    Nathaniel folgte zögernd einige Schritte hinter ihr, den elektrischen Viehtreiber noch immer in der Hand. Sie schritt mit erhobenem Kopf durch die Menge, wobei sie ihre zitternden Hände in den Falten ihres Kleids verbarg. Den Blick hielt sie auf das Podest und die Gruppe aufmerksamer, wartender Männer gerichtet.
    »Unglaublich«, hörte Leander eines der Ratsmitglieder leise vor sich hinmurmeln. Er drehte nicht den Kopf, um zu sehen, wer es war. Sein Blick war zu aufmerksam auf Morgan gerichtet.
    Sie war dünner geworden – eindeutig dünner und blasser, was jedoch weder ihrer Schönheit noch ihrer sinnlichen, magnetischen Anziehungskraft Abbruch getan hatte. Er beobachtete, wie ihr die Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen mit offenen Mündern und gierigen Blicken folgten. Obwohl ihre ganze Spezies so schön war, dass Schönheit an sich nicht mehr zählte, war sie doch strahlender als alle anderen.
    Irgendwie war es ihr wie immer gelungen, etwas Glamouröses und Dramatisches zu tragen, obwohl sie seit beinahe vier Wochen mit nichts anderem als blutigen Fetzen am Leib in der Zelle gesessen hatte. Jetzt trug sie ein schlichtes, ernstes schwarzes Kleid, das jedoch wie ein Stück Haute Couture aussah: ein langes, ärmelloses Seidenkleid, das nur eine Schulter bedeckte und ihre geschmeidigen Kurven wie verzauberte Spinnweben umgab. An den Füßen hatte sie hochhackige Silbersandalen, und ihre schweren ebenholzschwarzen Haare waren lässig und damit umso stilvoller hochgesteckt. Selbst so schmucklos und ohne Make-up, selbst als Ausgestoßene, die verachtet von allen auf ihren schrecklichen, einsamen Tod zuschritt, war Morgan noch immer zutiefst eindrucksvoll.
    Leander konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie erinnerte ihn zu sehr an seine Frau.
    Stolz. Königlich. Eine geborene Kämpferin.
    Er hatte sie im Grunde bisher noch nie richtig angesehen. Jedenfalls nicht so – wie eine Fremde, die man zum ersten Mal in seinem Leben erblickte. Schließlich waren sie gemeinsam aufgewachsen. Er hatte sie stets für ihre Leidenschaft, ihre Intelligenz und für ihren Ehrgeiz, dort Erfolg zu haben, wo andere Frauen vor ihr gescheitert waren, bewundert. Sie war die erste Frau gewesen, die in den Rat einer Kolonie gewählt worden war, die erste, die sich in einen Kampf stürzte, die erste, die sich ernsthaft gegen ihre vorgesehene Rolle als Ehefrau und Mutter aufgelehnt hatte. Sie hätte ihn sicherlich eingeschüchtert, wenn er nicht der Alpha
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher