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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler
Autoren: A Michaelis
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    Zuerst
    Blut.
    Überall ist Blut. An seinen Händen, an ihren Händen, auf seinem Hemd, seinem Gesicht, auf den Fliesen, in Schlieren verschmiert, auf dem kleinen runden Teppich, es tränkt ihn, dunkel, schwarz beinahe, der Teppich war einmal blau, er wird nie mehr blau sein.
    Auf dem Weiß der Fliesen ist das Blut rot. Er kniet im Blut. Er hat nicht gewusst, dass es so rot ist, so hellrot: große herabgefallene, zerborstene Blutstropfen gleich Mohnblumen. Sie sind schön, schön wie ein Frühlingstag auf einer sonnigen Wiese, draußen beim Wald … der Frühling ist fern. Die Fliesen sind kalt und weiß, weiß wie Schnee, und es ist Winter.
    Es wird immer Winter bleiben.
    Unsinniger Gedanke, warum sollte es immer Winter bleiben?
    Er muss etwas tun. Etwas gegen das Blut. Ein Meer aus Blut, ein rotes, unendliches Meer, purpurne Wogen, karminrote Gischtkämme, spritzende Farbe. All diese Worte in seinem Kopf!
    Wie lange kniet er schon so da, mit den Worten im Kopf? Das Rot beginnt zu trocknen, Ränder zu bekommen, etwas von seiner Schönheit zu verlieren, die Mohnblumen verwelken, vergilben wie die Worte, wenn man sie auf Papier schreibt …
    Er schließt die Augen. Reiß dich zusammen. Denk jetzt der Reihe nach. Was muss getan werden? Was zuerst? Was ist das Wichtigste?
    Das Wichtigste ist, dass niemand etwas erfährt.
    Handtücher. Er braucht Handtücher. Und Wasser. Einen Lappen. Die Spritzer an der Wand gehen schlecht ab, in den Zwischenräumen der Fliesen werden sie bleiben. Wird jemand es sehen?
    Seife. Seine Fingernägel haben dunkle Ränder. Eine Bürste. Er schrubbt, bis seine Hände rot sind, von einem anderen Rot, einem warmen, schmerzenden, lebendigen Rot.
    Sie sieht ihm nicht zu. Sie hat den Blick abgewandt, aber sie hatte immer den Blick abgewandt, sie hat so gelebt – mit abgewandtem Blick. Er wirft die Handtücher in die Waschmaschine.
    Sie sitzt da, gegen die Wand gelehnt; weigert sich, mit ihm zu sprechen.
    Er kniet sich noch einmal vor sie, auf den Fußboden, der wieder weiß ist, nimmt ihre Hände in seine. Flüstert ihr eine Frage zu, ein einziges Wort: »Wohin?«
    Und er liest die Antwort in ihren kalten Händen:
    Weißt du noch? Der Wald? Es war Frühling und diese kleinen weißen Blumen blühten überall unter den Buchen … wir gingen Hand in Hand, und du fragtest mich, was für Blumen das wären … ich wusste es nicht … Der Wald. Der Wald war unser einziger gemeinsamer Ort, und damals war unsere einzige gemeinsame Zeit, unsere einzige wirklich gute Zeit, nur wir beide, weißt du noch, weißt du noch, weißt du noch …
    »Ich weiß«, flüstert er. »Ich erinnere mich. Der Wald. Buschwindröschen. Ich habe später jemand anderen gefragt, wie sie heißen. Buschwindröschen …«
    Er hebt sie auf seine Arme wie ein Kind. Sie ist schwer und leicht zugleich. Sein Herz pocht im Rhythmus der Angst, als er sie trägt, hinaus in die Nacht. Halt dich doch fest. Hilf mir doch. Hilf mir doch ein einziges Mal!
    Die Kälte schlägt ihm entgegen, draußen, er riecht den Frost in der Luft, den kommenden Frost.
    Noch ist der Boden nicht gefroren. Er hat Glück. Es ist ein seltsamer Gedanke, Glück zu haben, in dieser Februarnacht. Es ist nicht weit zum Wald hinaus. Es ist zu weit. Er blickt sich um.
    Niemand ist da. Niemand sieht. Niemand weiß und niemand wird sich erinnern.
    Und im Wald blühen keine kleinen weißen Blumen. Der Boden ist ein einziger braun-schlammiger, aufgeweichter Sumpf. Die grauen Buchen tragen keine Blätter. Er nimmt dies alles nur schemenhaft wahr, es ist zu dunkel. Es ist gerade dunkel genug. Hier gibt es keine Straßenlaternen mehr. Die Erde gibt nur widerwillig nach, der Spaten ist stumpf. Er flucht, lautlos. Sie sieht ihn noch immer nicht an. Sie sitzt an einen der dunklen Bäume gelehnt und scheint in Gedanken versunken. Und plötzlich packt ihn die Wut.
    Er kniet zum dritten Mal in dieser Nacht vor ihr, er schüttelt sie, versucht, sie auf die Beine zu ziehen, er will sie anschreien, er schreit sie an, nur in Gedanken, stumm, mit offenem Mund.
    Du bist das selbstsüchtigste, gedankenloseste Geschöpf, das ich kenne! Was du getan hast, ist unverzeihlich. Du weißt, du weißt doch, was geschehen wird! Du hast natürlich nicht darüber nachgedacht, oh nein, du nicht, deine Gedanken kreisten nur um deineeigene, erbärmlich kleine Welt. Du hast eine Lösung für dich gefunden, nur keine Lösung für mich, für uns, du hast keine Sekunde daran gedacht … Und dann
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