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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn
Autoren: Elke Pistor
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zu
behaupten. Aber nach einem halben Jahr hatten alle Kollegen in der Firma
begriffen, dass man ihrem Mundwerk die fehlende Größe nicht vorwerfen konnte,
und sie ohne Einschränkung als »einen der ihren« akzeptiert, der eine früher,
der andere später.
    Ihr Vater hatte getobt, als
er von ihren monatelangen Lügen und ihrem Doppelleben erfahren hatte. Warum der
Studienabbruch?, wollte er wissen. So kurz vor dem Abschluss. Mit diesen
glänzenden Perspektiven. Er hatte keine Chance, es zu verstehen, selbst wenn
sie versucht hätte, es ihm zu erklären – dass er und sein Verhalten ein Teil
von allem waren. Der Druck, das immer enger werdende Korsett, die Fassade, die
um jeden Preis aufrechterhalten werden musste, koste es, was es wolle. Sie war
die erfolgreiche Tochter des erfolgreichen Vaters. Darunter ging es nicht.
Bianca hatte ein Schulleben und beinahe ein komplettes Studium gebraucht, um zu
verstehen, was daran nicht stimmte: Es war nicht ihr Wunsch, sondern seiner.
Seine Erwartungen, die sie nicht enttäuschen durfte und wollte. Seine
Vorstellungen, seine Werte. Er hatte ihr nie den Raum gegeben, zu entdecken,
was ihr Eigenes hätte sein können. Es hatte wehgetan, sich ihm zu widersetzen,
aber als sie ihre fixe Idee in die Wirklichkeit getragen und den Baggerführerschein
gemacht hatte, fühlte sie sich zum ersten Mal richtig. Selbst.
    Ab und an missverstand ein
neuer Kollege die Blicke, die sich die anderen unter den Helmen zuwarfen, und
tappte in die Falle. Wenn ihm aufging, dass die freudige Erwartung in den Augen
der anderen seinem sicheren Abblitzen bei ihr galt und nicht ihrem Hüftschwung,
war es meist zu spät, und er hatte sich bis auf die Knochen blamiert. Trotz der
schweren Arbeitsschuhe, der weiten Hosen und Warnwesten als Schutzkleidung – im
doppelten Sinn.
    Die Zähne der Schaufel
schoben sich unter den Rand eines Eisenträgers. Bianca bewegte sacht den
Steuerknüppel und hob sich ein Stück aus ihrem Sitz. Eine gute Übung für sie,
auch wenn es für den Auftrag keinen Unterschied machte, wie kunstfertig sie
vorging. Seit vierzehn Tagen kämpften sie das alte Haus im Gemünder
Industriegebiet nieder, schoben, rissen und stießen von allen Seiten.
»Anwesen«, so nannte man es, und das lapidare Schulterzucken der Ortsansässigen
offenbarte unter der offen zur Schau getragenen Gleichgültigkeit ein spürbares
Maß an Erleichterung über den Abriss. Das Haus schien kein gutes Haus gewesen
zu sein. Heute nicht und nicht in den Jahren vorher. Bianca war neugierig. Sie
hätte gern mehr erfahren über das, was das Haus zu einem schlechten gemacht
hatte, aber ihre Kollegen kamen alle nicht aus dem Ort. Waren wie sie Fremde,
die nichts wussten, nichts ahnten und – im Gegensatz zu ihr – nichts wissen
wollten. Für die war es ein Job. Nicht mehr. Sie würden weiterziehen, ohne
bleibende Erinnerungen an ihr Tun. Nur der Platz für das Neue zählte, auch wenn
es genauso gesichtslos blieb wie das Alte.
    Mehr als hundert Jahre
Geschichte hatten sich durch diese Räume gelebt und Spuren hinterlassen. Trotz
der leeren Fensterhöhlen, der Risse im Putz und der verbarrikadierten Türen
strahlte das Gebäude Stolz aus, den es auch im Fallen nicht verloren hatte. Was
blieb, war ein Gefühl der Enttäuschung über die schnelle Nachgiebigkeit der
alten Mauern, das Freigeben seines Wesens, dessen, was ihm innegewohnt hatte.
Ein Gefühl, das sie von ihren Kollegen unterschied, durch ihr Interesse an dem,
was gewesen war, an dem, was die Fassaden verbargen, an den Seelen der Ruinen.
Sie versteckte sich hinter diesem Unterschied, ließ niemanden an sich heran.
Daran änderten auch ihre wechselnden Liebhaber nichts, die sie sich suchte, mal
für eine Nacht, mal für etwas länger. Mehr konnte sie nicht geben. Und mehr gab
man ihr nicht, auch wenn sie mehr wollte. Der Letzte gestern Abend, auf den
ersten Blick der Typ braver Familienvater, auf den zweiten ein unterhaltsamer
Bettgenosse, hatte sie in Versuchung geführt, es zu wollen. War ihr zugewandt
gewesen, seine Achtsamkeit nur bei ihr. Vielleicht hätte sie ihm von der
Vergewaltigung erzählen sollen? Vielleicht hätte das in ihm ein Verständnis für
die Oberfläche geweckt, auf die sie ihn hatte blicken lassen. Vielleicht hätte
sie eine ihrer unzähligen Häute abstreifen, sich ihm nackter zeigen können, als
es ihr unbekleideter Körper war. Bis ins Innere vorzudringen, gestattete sie
niemandem, sogar sich selbst nicht. Der Kern, das Wesen ihrer selbst,
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