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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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Prolog
    November 2009.
    Der Rollstuhl fährt zu schnell. 3 Uhr nachts, im Krankenhaus. »Türschwelle!« Ich halte meinen Babybauch, als könnte er herunterfallen. Mich schiebt ein Student, der nachts im Krankenhaus jobbt, ein »Transporter«, wie die Schwestern sagen. Neben mir joggt Nina, ebenfalls im 9. Monat. »Genau wie Sie – einer von den harten Fällen«, so hat uns ein Arzt einander vorgestellt. Wir rasen einen langen, leeren Flur entlang. Die Nachtschwester hat uns geschickt.
    »Kreißsaal.«
    »Nein.«
    »Sie kriegen Ihr Baby.«
    »Krieg ich nicht. Mir ist nur schlecht.«
    Wieder eine Türschwelle, ich schlucke Galle, ich hebe einen Arm. »Stopp.« Abrupt bleiben wir stehen, neben den Aufzügen. Aus dem Rollstuhl lasse ich mich auf den Boden gleiten. Nina sinkt daneben. Der Transporter schaut auf uns herunter und zuckt die Schultern. »Müssen Sie wissen.« Er drückt auf den Aufzugsknopf. »Dann hole ich meine Leiche ab. Die macht keine Zicken.«
    Das Lachen bricht aus mir heraus, dass es wehtut. Ich schaue zu Nina, sie hält beide Hände vors Gesicht, ihre Augen funkeln. Hinter dem Transporter schließen sich die Aufzugstüren. Unser Kichern erstirbt in leisen Japsern, bis wir nur noch die Neonröhren surren hören. Wir sitzen auf grauem Linoleum, es riecht nach Desinfektionsmittel. Über uns blinkt das rote Licht einer Videoüberwachungskamera. Irgendwo in der Klinik sitzt jetzt ein Überwachungstechniker und sieht auf seinem Fernsehbildschirm zwei Schwangere auf dem Boden sitzen.
    Ich lege mich auf die Seite und stütze den Ellenbogen auf. Nina streift ihre Pantoffeln ab. An der Wand gegenüber hängt der »Flucht- und Rettungsplan«, grün auf weiß die Notausgänge. »Ruhe bewahren« steht da. Wir starren auf die Glastür vor uns, voller lächelnder Teddybären. Kinderintensivstation.
    »Hast du Angst?«
    »Mmmh.«
    Wir schweigen. Nina hat Leon im Bauch, Trisomie 21, Herzfehler, ich Lotta, Vena Galeni Malformation. Wir sind die harten Fälle. Wir leben seit drei Wochen auf der Geburtenstation, Tür an Tür.
    Nina sagt: »Was, wenn ich ihn nicht lieben kann?«
    Hinter der Glastür zur Intensivstation sehe ich eine Schwester rufen. Sie deutet auf uns, Menschen laufen auf uns zu. Sie drückt auf einen Schalter an der Wand, die Tür öffnet sich mit einem lauten Schnarren, plötzlich hören wir das Bimmeln der Monitore der Intensivstation. Die Schwester ruft: »Wie sind Sie denn hierhergekommen?«
    Die Frage hallt noch lange nach. Ich höre sie noch drei Jahre später.

    März 2012.
    »Mama?«
    Ich blicke auf und lasse den Breilöffel vor Lottas Mund in der Luft schweben. Neben mir sitzt Ben vor einem Teller voller Fischstäbchen.
    »Mama, weißt du was? Lotta kann krabbeln.«
    Ich blicke zu Lotta auf meinem Schoß. Sie starrt ins Leere, ihr Kopf ruht auf meinem linken Arm. Sie ist zwei Jahre alt, Ben vier. Sie sind beide blond, blauäugig, Grübchen in den Wangen. »Sie sind viel zu schön für uns«, sagt mein Mann Harry immer. »Sie müssen vertauscht worden sein.« Bens Augen sind himmelblau, Lottas haben einen Stich ins Grüne. Die Gemeinsamkeiten enden schnell. Während Ben sein Fischstäbchen aufspießt, in den Mund schiebt, kaut, seine Lippen mit dem Ärmel abwischt und mit den Füßen scharrt, hat Lotta in den letzten zehn Minuten nur ihren Mund geöffnet und geschlossen. Ben lebt fast schon im Schnelldurchlauf, Lotta wie in Zeitlupe. Langsam rinnt ein Faden Sabber von ihrem Kinn auf ihren Pulli. Ich lege den Löffel ab, nehme das Spucktuch und streiche ihr über den Mund.
    »Wenn Lotta krabbeln könnte – das wäre schön, oder, Ben?«
    »Nein, Mama. Sie kann krabbeln.«
    »Meinst du?«
    »Ja«, sagt er mit der Bestimmtheit, die man nur mit vier hat. »Im Geheimen.«
    Ich lächele.
    »Im Geheimen kann Lotta alles«, sagt Ben. »Mama sagen. Richtig sehen.«
    »Vielleicht hast du recht. Aber weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass Lotta vielleicht später mal einen Rollstuhl kriegt?«
    Pause. Ben stochert in seinen Fischstäbchen. »Aber nur, wenn ich schieben darf.«
    »Klar, darfst du.«
    Ben beugt sich zu Lotta rüber. Er flüstert ihr zu: »Wenn du nicht mehr sitzen willst, kannst du ja fliegen. Ja, Lotta?«
    Ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln.
    »Und sie kann doch krabbeln«, sagt Ben zu mir und schiebt seinen Teller weg.
    Meine Tochter hat geheime Superkräfte, die nur ihr großer Bruder kennt. Wie sind wir hierhergekommen?

    Im Sportverein. Die Sonne scheint. Ben rennt auf
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