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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis
Autoren: Yasmina Khadra
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I.
Frankfurt
    Damals, als ich der Liebe begegnete, hatte ich gedacht, ja, das ist es, ich lebe , statt zu existieren, und ich hatte mir geschworen, alles zu tun, um mein Glück für immer und ewig zu bewahren. Mein irdisches Dasein bekam plötzlich einen tieferen Sinn, und ich kam mir ziemlich außergewöhnlich vor. Davor war ich ein ganz gewöhnlicher Arzt am Anfang einer gewöhnlichen Laufbahn gewesen. Jemand, der eher lustlos an seinem Stückchen Gegenwart nagte, hin und wieder, eher selten, eine flotte Eroberung machte, die so leidenschaftslos wie schnelllebig war, und sich mit oberflächlichen Freundschaften zu ein paar Kumpels begnügte, mit denen er abends manchmal durch die Kneipen zog und am Wochenende harmlose Ausflüge ins Frankfurter Wäldchen unternahm – kurz, Routine ohne Ende und ab und zu ein kleines Ereignis, flüchtig wie ein Déjà-vu, das mich kaum mehr berührte als eine banale Zeitungsnotiz … Als ich dann Jessica begegnete, begegnete ich der Welt an sich, besser gesagt, ich drang vor zum Kern der Welt. Ich wollte Jessica so viel be­deu­ten wie sie mir, wollte noch in ihren leisesten Gedanken wohnen, noch die kleinste ihrer Sorgen wert sein; ich wollte ihr Abgott, sie sollte meine Muse sein; ich wollte so vieles, und Jessica verkörperte alles zugleich. In Wahrheit war sie die Diva und der Star – der einzige Stern, der hell an meinem Himmel strahlte. Ich befand mich auf dem Gipfel der Glückseligkeit. Mir war, als würde der Sommer unter meinen Händen erwachen. Mein Herz schlug im Takt ­ihrer Gnadenmomente. Ihr Kuss auf meinen Lippen war wie ein heiliger Schwur. Jessica war mein Seismograph und meine Religion. Eine Religion, in der kein Platz für die dunkle Seite der Dinge war. Und die nur drei prophe­tische Worte kannte, ein einziges Stoßgebet: Ich liebe dich … Doch seit einigen Wochen wollte selbst der frommste Wunsch an ihr verzweifeln. Jessica sah mich mit anderen Augen an. Ich erkannte sie nicht wieder. Zehn Jahre Ehe, und dann plötzlich merken, dass unser Zusammenleben nicht mehr so recht funktionierte, dass irgendwo ein Körnchen im Getriebe war, doch nirgends der leiseste Hinweis, wie es sich beseitigen ließ und wo der Ursprung der Disharmonie lag. Wollte ich mit ihr reden, schreckte sie hoch und brauchte bald eine Minute, bis sie merkte, dass nur ich, ihr Mann, es war, der versuchte, den Panzer zu durchdringen, in den sie sich eingeschlossen hatte. Bohrte ich weiter, verschanzte sie sich hinter ihren Armen und gab vor, jetzt sei nicht der richtige Moment für ein Gespräch. Jedes Wort von mir, jedes Seufzen ging ihr auf die Nerven, vergrößerte nur den Abstand zwischen uns.
    Nicht, dass meine Frau mich beunruhigt hätte, nein, sie machte mir geradezu Angst.
    Kennengelernt hatte ich sie als Kämpferin, als eine Frau, die souverän ihre Überzeugungen vertrat und noch den kleinsten Glückssplitter auflas, der sich auf unserem Weg befand … Jessica damals, das waren gesegnete Jahre, in denen uns alles gelang. Zehn Jahre überschäumender Liebe, schwelgerischer Umarmungen und zärtlichen Komplizentums.
    Ich war ihr in Paris begegnet, in einer Brasserie auf den Champs-Élysées. Sie nahm an einem Seminar teil, ich an einem Kongress. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Wir hatten uns stumm angesehen, sie hinten im Raum, ich in Fensternähe. Dann hatten wir einander zugelächelt. Sie war vor mir ge­gangen, in Begleitung ihrer Kollegen. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Am Abend dann lief sie mir in der Hotelhalle über den Weg, weil ihr Seminar und mein Kongress im selben Hotel stattfanden, nur auf unterschiedlichen Etagen. Wenn der Zufall uns schon so gewogen war, warum dann nicht zupacken? Vier Monate später waren wir verheiratet.
    Warum war sie plötzlich so distanziert? Wieso vertraute sie mir nichts von ihren Ängsten und Geheimnissen an? Am Ende meiner Weisheit angelangt, hatte ich mir ihr Benehmen als Ausdruck eines schlechten Gewissens erklärt und einen Seitensprung vermutet, ein flüchtiges Abenteuer, das einen Strudel von Schuldgefühlen nach sich zog … Verzweifelte Erklärungsversuche. Jessica gehörte nur mir. Ich konnte mich nicht erinnern, sie auch nur einmal dabei überrascht zu haben, dass ihre Aufmerksamkeit einem anderen Mann galt als mir.
    Wieder und wieder hatte ich, wenn wir in der Küche saßen
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