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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis
Autoren: Yasmina Khadra
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wieder spät wurde . Toni war ein netter Kerl aus dem Süden, ­jovial und witzig, ein temperamentvoller Rotschopf, der sein Publikum gern mit Sprüchen unterhielt, die immer haarscharf daneben waren. Wegen seiner guten Laune und seiner Spontaneität nannten ihn alle im Viertel nur den Sizilianer. Seine überschwengliche Vertraulichkeit verstörte manche Gäste, die wenig Erfahrung mit spontaner Verbrüderung hatten, doch mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Ich konnte Toni gut leiden, auch wenn ich für seinen Geschmack eine Spur zu reserviert war. Er hatte das Talent, mich zu zerstreuen, wenn ich allzu gestresst war, und Takt genug, um von mir abzulassen, wenn er mir mit seiner Pranke auf die Schulter schlug und ich nicht reagierte.
    Â»Mensch, Kurt, heute ist ja gar nichts mit dir anzufangen!«
    Â»Ich hatte einen anstrengenden Tag voller Termine.«
    Â»Du Glücklicher! Dann kannst du doch froh sein!«
    Â»Bin ich doch auch.«
    Â»Sieht man dir aber nicht an. Ich hoffe, du hast dein Lächeln nicht über dem Stethoskop zurückgelassen.«
    Ich lächelte ihm zu.
    Â»Jetzt bin ich beruhigt. Siehst du? Geht doch. Ein Lächeln kostet doch nichts.«
    Er fuhr mit dem Wischtuch über den Tresen und verkündete mir:
    Â»Hans ist gerade gegangen. Hast du ihn nicht auf der Straße getroffen?«
    Â»Nein. Seit wann ist er denn zurück?«
    Â»Seit drei Tagen. Hat er sich noch nicht bei dir gemeldet?«
    Â»Nein.«
    Â»Wie kommt’s? Habt ihr euch etwa verkracht?«
    Â»Ach was. Wenn er sich noch nicht gemeldet hat, dann sicher, weil er noch einiges zu erledigen hat … Hatte er eine gute Zeit in Amazonien?«
    Â»Scheint so. Wir sind nicht dazu gekommen, darüber zu reden, aber er schien ganz begeistert von seiner Expedition. Außer­dem ist er braungebrannt und hat ein paar Pfunde verloren. Steht ihm gut.«
    Hans Mackenroth war ein alter Freund. Er kam aus einer der reichsten Familien Frankfurts und stand etlichen großen Unternehmen vor, die sich auf Krankenhauseinrichtungen spezialisiert hatten. Aber sein Vermögen hatte aus ihm keinen unnahbaren, arroganten Schnösel gemacht. Im Gegenteil. Luxusgalas und High-Society-Events mied er wie die Pest. Lieber trieb er sich an alltäglichen Orten herum. Wir hatten uns vor gut einem Jahrzehnt in Maspalomas auf den Kanaren kennengelernt. Hans feierte dort mit seiner Frau Paula Silberhochzeit; Jessica und ich waren in den Flitterwochen. Unsere Bungalows lagen dicht beieinander, nur ein paar hundert Meter vom Strand entfernt. Paula hatte sich trotz des Altersunterschieds mit Jessica ­angefreundet. Sie luden sich abends gegenseitig auf eine Tasse Kaffee ein und erlaubten Hans und mir, ihnen Gesellschaft zu leisten. Hans begeisterte sich für alles, was mit Schiffen, Weltmeeren und fernen Völkern zu tun hatte. Da ich dafür empfänglich war, begeisterte Hans sich bald auch für mich. Fortan waren wir unzertrennlich.
    Vier Jahre später starb Paula jäh und unerwartet an einer akuten Lungenentzündung, und seit er Witwer war, reiste Hans nur noch durch die Welt, als versuchte er, seinem Kummer davonzufahren. Er war ein begnadeter Seefahrer, den ferne Horizonte lockten. Jahr für Jahr lichtete er erneut seinen Anker und steuerte die unglaublichsten Regionen an, um verarmten Völkern in der Tiefe amazonischer Regenwälder, in Afrika oder den entlegensten Gebieten Asiens seine Hilfe anzubieten.
    Â»Magst du noch etwas?«, fragte mich Toni.
    Â»Ich habe wenig Hunger und heute keinen Appetit auf Meeresfrüchte.«
    Â»Ich habe wirklich fantastische Calamares.«
    Â»Fleisch wäre mir lieber. Eine Vorspeise reicht vollkommen.«
    Toni schlug mir ein Carpaccio vom Rind vor.
    Ãœber dem Tresen übertrug ein Flachbildschirm ein Fußballspiel. Hinten im Raum speiste schweigend eine Familie, im Kreis um einen alten Mann mit unsicheren Bewegungen versammelt. An einem Tisch dicht am Fenster plauderten zwei junge Frauen; das Leuchtschild der Kneipe besprenkelte sie mit buntem Licht und ließ rötliche Reflexe über ihre Haare tanzen. Eine der beiden musterte mich, dann wandte sie sich ihrer Begleiterin zu, die sich ihrerseits umdrehte, um mich zu begutachten. Ich verlangte die Rechnung und verabschiedete mich, obwohl Toni mich auf ein letztes Glas zu überreden versuchte; draußen war es inzwischen noch kälter geworden.
    Ich wollte ein wenig laufen,
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