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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis
Autoren: Yasmina Khadra
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verstört, vernichtet durch diesen furchtbaren Schicksalsschlag.
    Endlich räumten die Polizisten das Badezimmer, nachdem sie ihre Geräte wieder eingepackt hatten. Sie hatten Fotos gemacht und Indizien gesichert, um die Umstände des Todes meiner Frau zu klären. Die Sanitäter durften die Leiche mitnehmen. Ich sah ihnen zu, wie sie Jessica auf der Bahre forttrugen – Jessica, die nur noch ein Leichnam unter einem weißen Laken war.
    Ein hochgewachsener Mann in dunklem Anzug nahm mich zur Seite. Er hatte ein rundliches Gesicht, graue Schläfen und eine beachtliche Glatze. Mit ausgesuchter Höflichkeit, die schon an Unterwürfigkeit grenzte und mich aus ich weiß nicht welchem Grund nervte, bat er mich zum Gespräch ins Wohnzimmer.
    Â»Gestatten Sie: Kommissar Sturm. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Ich weiß, es ist nicht der passende Augenblick, aber ich muss leider …«
    Â»In der Tat, Herr Kommissar, es ist nicht der passende Augen­blick«, fiel ich ihm ins Wort. »Es ist alles andere als der passende Augenblick.«
    Ich hatte Mühe, meine eigene Stimme zu erkennen, die durch eine endlose Reihe von Filtern zu mir drang. Ich war wütend auf diesen Polizeibeamten, fand sein Benehmen unmenschlich. Wie konnte er es wagen, mir Fragen zu stellen, wo ich doch selbst nicht begriff, was mir widerfuhr? Welche Antworten versprach er sich von einem, der soeben seinen Halt, sein Fühl- und Denkvermögen eingebüßt hatte? Ich stand unter Schock, war völlig benommen von diesem Sturm, der in mir tobte und mich in ich weiß nicht welche Abgründe riss …
    Ich hatte nur den einen Wunsch, dass in meinem Haus wieder Stille einkehrte.
    Der Kommissar kam im Morgengrauen zurück, flankiert von zwei Polizisten mit ausdruckslosen Mienen, die mir auf den ersten Blick unsympathisch waren. Er stellte sie mir kurz vor und bat mich, sie hereinzulassen. Widerwillig wich ich zur Seite. Ich fühlte mich außerstande, Besuch zu empfangen. Ich hatte das Bedürfnis, allein zu sein, die Fensterläden zu schließen, mich in der Dunkelheit zu vergraben und so zu tun, als wäre ich nicht da. Mein Schmerz überlagerte einfach alles: die Zeit, die Welt, das komplette Universum. Ich fühlte mich so gering unter seiner Wucht, so verschwindend klein, dass ich schon in einer Träne ertrunken wäre. Dazu diese lastende, jedes Maß übersteigende Müdigkeit, die mich mürbe machte …! Ich hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Je stärker die makabre Badezimmerszene mich einholte, umso weniger konnte ich sie fassen. Es war wie ein Traum, der kam und ging, wie ein quälend diffuses Gefühl von Seekrankheit. Mir war, als hätte ich mich mehrfach übergeben müssen. Oder vielleicht war mir auch nur mehrmals kreuzübel gewesen? Ich war mir nicht sicher, nichts war mehr sicher. Jessicas Selbstmord war ein grausiges Rätsel … In Wirklichkeit wollte ich gar nicht schlafen. Der Schlaf wäre die reinste Tortur gewesen. Wozu schlafen? Um beim Aufwachen festzustellen, dass Jessica tot war? Wie einen derart brutalen Schock überleben, der einen wieder und wieder überfällt …? Nein, bloß nicht schlafen … Nachdem Polizei und Rettungsdienst fort waren, hatte ich das Licht gelöscht, die Fensterläden verriegelt, mich in einer Ecke meines Schlafzimmers vergraben und den Schlaf bis zum Morgen auf Abstand gehalten, wohl wissend, dass kein Sonnenstrahl mir dabei helfen würde, in meiner Trauer einen klaren Gedanken zu fassen.
    Ich geleitete die drei Polizeibeamten ins Wohnzimmer. Sie ließen sich auf dem Sofa nieder. Ich blieb unschlüssig stehen. Der Kommissar wies mir einen Sessel zu und wartete, bis ich mich gesetzt hatte, bevor er von mir wissen wollte, ob Jessica irgendeinen Grund gehabt hätte, sich umzubringen. In seiner Frage schwang ein misstrauischer Unterton mit. Fassungslos sah ich ihn an. Nachdem ich die Frage in Gedanken von allen Seiten betrachtet hatte, erklärte ich, dass es mir schwerfalle zu glauben, dass Jessica wirklich tot sei, und ich nur darauf warte, aus diesem Alptraum aufzuwachen. Der Kommissar nickte höflich, dann wiederholte er seine Frage, als wäre meine Bemerkung völlig fehl am Platz und als wünsche er, dass ich mich strikt an die Tatsachen hielte, an die Motive, die eine Person wie Jessica dazu gebracht haben könnten, in den Tod zu gehen. Die Art, in der er
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