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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis
Autoren: Yasmina Khadra
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in Richtung Main, mir die Beine vertreten und das Hirn durchlüften, aber der Himmel brach schier ein unter dem Gewicht der Wolken, und ein kräftiger Guss trieb mich zum Parkplatz zurück, wo mein Wagen stand.
    Wegen der Staus infolge des Regenwetters kam ich erst gegen 22 Uhr 30 zu Hause an. Ich wagte zu hoffen, Jessica möge heimgekehrt sein, aber hinter den Fenstern unseres Hauses brannte kein Licht.
    Eine von Jessicas Jacken lag auf der Kommode im Flur. Ich konnte mich nicht erinnern, sie am Morgen, als ich in die Praxis aufbrach, dort gesehen zu haben.
    Das Bett in unserem Schlafzimmer war noch gemacht.
    Ich entledigte mich meines Mantels, meines Jacketts und meiner Krawatte und holte mir ein Bier aus der Küche. Dann machte ich es mir auf dem Sofa bequem, die Beine über Kreuz auf einem Lederpuff, und griff nach der Fernbedienung. Auf dem Bildschirm erschien eine Polit-Talkshow. Ich zappte hin und her, bis ich auf eine Tiefseereportage stieß. Haie schossen in Gruppen zwischen den Korallen umher. Die ozeanischen Tiefen beruhigten mich zwar, doch ich konnte mich nicht auf das Thema konzentrieren. Die Wanduhr zeigte 23 Uhr 11. Meine Armbanduhr auch. Wieder fing ich an, unschlüssig herumzuzappen, und landete schließlich erneut bei der Tiefseereportage. Unfähig, mich für irgendeine Sendung besonders zu interessieren, beschloss ich, zu duschen und schlafen zu gehen.
    Als ich im Bad auf den Lichtschalter drückte, prallte ich zurück wie unter der Wucht einer Orkanbö. Erst hielt ich es für eine Halluzination, aber es war kein harmloser optischer Effekt; es ging weit über einen bloßen Netzhauteindruck hinaus. Nein , hörte ich mich schreien. Die Knie wurden mir weich, krampfhaft klammerte ich mich ans Waschbecken, um nicht zusammenzubrechen. Um mich herum eisige Leere. Schauer durchzuckten meine Waden bis hinauf in meinen Bauch, verbreiteten sich in Schwärmen elektrischer Funken in meinem ganzen Ich: Da lag Jessica, in der Badewanne, komplett bekleidet, bis zum Hals im Wasser, den Kopf zur Seite gedreht, während ein Arm über die Kante der Wanne herabhing. Die Haare trieben um ihr bleiches Gesicht, und ihre halbgeschlossenen Augen fixierten betrübt den anderen Arm, der angewinkelt auf ihrem Bauch lag … Ein unerträglicher Anblick, alptraumhaft, surreal … Ein Bild grenzenlosen Horrors!
    In meinem Haus wimmelte es von Eindringlingen.
    Jemand brachte mir ein Glas Wasser und half mir, mich zu setzen. Er redete auf mich ein, aber ich hörte nichts. Ich sah Unbekannte, die um mich herum zugange waren, Polizisten in Uniform, Bahrenträger in weißen Kitteln. Wer waren sie? Was machten sie bei mir? Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte sie ja gerufen. Als ich kurz bei klarem Bewusstsein war, dann kam der Nebel zurück. Wieder verstand ich nichts mehr, fand mich nicht zurecht in dem Durcheinander in meinem Kopf: Jessica … Jessica hatte sich umgebracht … hatte zwei Packungen Schlaf­tabletten geschluckt … Zwei Packungen … Schlaftabletten … Wie war das möglich …? Jessica ist tot … Meine Frau hat sich umgebracht … Die Liebe meines Lebens, ausgelöscht … Ein Fingerschnippen, und meine Welt ist ärmer geworden …
    Ich nahm meinen Kopf fest in beide Hände, damit er nicht explodierte. Unmöglich, mich von diesem Schock zu befreien, der mich im Bad durchzuckt hatte, dieser Leiche in der Badewanne … Jessica, komm da heraus, ich flehe dich an … Wie sollte sie da wieder herauskommen? Wie sollte sie mich hören? Ihre Starre, ihre marmorne Blässe, ihr eisiger Blick ließen sich nicht rückgängig machen, trotzdem war ich zu ihr hingestürzt, hatte sie in die Arme genommen, geschüttelt und angebrüllt, sie solle zu sich kommen; meine Schreie wirbelten durch den Raum, schlugen an den Wänden auf, durchbohrten meine Schläfen. Der Mediziner in mir wusste sehr wohl, dass da nicht viel zu machen war; der Ehemann weigerte sich, es zuzugeben. Jessica war nur noch ein Klumpen Fleisch, ein Stück unbelebter Natur . Ich hatte sie aus der Wanne gehoben, auf den Fußboden gelegt und alles Menschenmögliche versucht, um sie zu reanimieren. Bis ich irgendwann nicht mehr konnte und mich in eine Ecke fallen ließ, um sie immer nur anzustarren, wie durch einen venezianischen Spiegel hindurch. Ich weiß nicht, wie lange ich da so am Boden gesessen haben mag, völlig
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