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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere
Autoren: Scarlett Thomas
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Kapitel eins
     
    Sie haben jetzt die Wahl.
    Sie … ich lehne mich aus dem Fenster meines Büros, rauche heimlich eine Zigarette und versuche in dem trüben Winterlicht »Randgänge der Philosophie« zu lesen, als ich ein Geräusch höre, das ich noch nie gehört habe. Okay, das Geräusch – krach, peng usw. – habe ich wahrscheinlich schon mal gehört, doch jetzt kommt es von unten, und da liegt das Problem. Unter mir sollte nichts sein: Ich befinde mich im Erdgeschoss. Aber der Boden vibriert, eine Wellenbewegung, als ob irgendetwas versucht, sich von unten hochzudrücken, und ich denke an die Mütter anderer Leute, die ihre Steppdecken ausschütteln, oder sogar an Gott, der den Stoff der Raum-Zeit ausschüttelt. Dann denke ich: Verdammte Scheiße, das ist ein Erdbeben, lasse meine Zigarette fallen und renne ungefähr in dem Moment aus meinem Büro, als der Alarm ertönt.
    Wenn irgendwo ein Alarm schrillt, renne ich nicht immer sofort los. Wer tut das schon? Normalerweise ist ein Alarm nur ein leeres Zeichen: ein Drill, eine Übung. Ich bin auf dem Weg zum Seiteneingang des Gebäudes, als das Vibrieren aufhört. Soll ich zurück in mein Büro gehen? Aber es ist unmöglich, in diesem Gebäude zu bleiben, wenn der Alarm losjault. Er ist zu laut; er heult einem im Kopf. Als ich das Gebäude verlasse, komme ich am schwarzen Brett der Arbeitsschutzbehörde vorbei, an dem Bilder verletzter Menschen hängen. Die Bilder verschwimmen, als ich daran vorbeieile: Ein Mann, der Rückenschmerzen hat, erleidet außerdem einen Herzinfarkt, und verschiedene Hologramm-Menschen versuchen ihn wiederzubeleben. Eigentlich hätte ich letztes Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs machen sollen.
    Als ich die Seitentür öffne, sehe ich, wie Leute aus dem Russell Building kommen, unseren Block passieren und die graue Betontreppe hinaufgehen oder -rennen, die zum Newton Building und zur Bibliothek führt. Ich haste rechts am Gebäude vorbei und springe die Betonstufen hoch, immer zwei auf einmal. Der Himmel ist grau, feiner Nieselregen hängt in der Luft, es ist, als hätte man den Fernseher auf einen toten Kanal geschaltet. Manchmal hockt die Sonne an diesen Januarnachmittagen tief am Himmel wie ein orangefarben gewandeter Buddha in einem Dokumentarfilm über den Sinn des Lebens. Heute gibt es keine Sonne. Ich erreiche die große Menschenmenge, die sich gebildet hat, und bleibe stehen. Alle schauen in dieselbe Richtung, schnappen nach Luft und stoßen Laute aus wie bei einem öffentlichen Feuerwerk.
    Es ist das Newton Building.
    Es stürzt ein.
    Ich muss an dieses Spielzeug denken – hab ich das nicht kürzlich irgendwo auf einem Schreibtisch liegen sehen? –, ein kleines Pferd auf einem Holzsockel. Wenn man unten auf den Sockel drückt, geht das Pferd in die Knie. So sieht das Newton Building jetzt aus. Es ist dabei, im Boden zu versinken, aber irgendwie schief; eine Ecke ist verschwunden, jetzt zwei, jetzt … Jetzt bleibt es stehen. Es knackt, und es bleibt stehen. Ein Fenster im dritten Stock fliegt auf, und ein Bildschirm fällt raus und knallt auf das, was von dem betonierten Hof unten noch übrig ist. Vier Männer mit Schutzhelmen und signalfarbenen Jacken nähern sich langsam dem aufgebrochenen Hof; dann kommt noch ein Mann, sagt etwas zu ihnen, und sie gehen alle zusammen wieder weg.
    Zwei Männer in dunklen Anzügen stehen neben mir.
    »Déjà-vu«, sagt der eine zum anderen.
    Ich sehe mich nach bekannten Gesichtern um. Da steht Mary Robinson, die Leiterin des Fachbereichs, im Gespräch mit Lisa Hobbes. Sonst sind nicht viele Leute vom Anglistik-Institut zu entdecken, aber ich sehe Max Truman etwas abseitsstehen und eine Selbstgedrehte rauchen. Er wird wissen, was los ist.
    »Hallo, Ariel«, murmelt er, als ich mich neben ihn stelle.
    Max murmelt immer, nicht schüchtern, sondern eher so, als ob er einem erzählen wollte, was es kosten würde, seinen schlimmsten Feind aus dem Weg zu schaffen, oder wie viel man bezahlen müsste, um ein Pferderennen zu manipulieren. Ob er mich mag? Ich glaube, er vertraut mir nicht. Aber warum sollte er auch? Ich bin vergleichsweise jung, relativ neu am Institut, und wahrscheinlich wirke ich ehrgeizig, obwohl ich es nicht bin. Außerdem habe ich lange rote Haare, und die Leute sagen, ich sähe einschüchternd aus (wegen der Haare? wegen etwas anderem?). Die Leute, die nicht sagen, ich sähe einschüchternd aus, sagen manchmal, ich sähe »zwielichtig« oder »merkwürdig« aus. Einer meiner ehemaligen
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