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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Autoren: Clarice Lispector
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Dann Kälte, und Schlaf.

… DIE MUTTER …
    Eines Tages kam der Freund des Vaters von weit her und umarmte ihn. Beim Abendessen sah Joana verblüfft und bedrückt ein nacktes, gelbes Huhn auf dem Tisch. Der Vater und der Mann tranken Wein, und der Mann sagte ab und zu:
    »Ich kann gar nicht glauben, dass du eine Tochter zustande gebracht hast …«
    Der Vater drehte sich lachend zu Joana und sagte:
    »Die habe ich an der Ecke erstanden …«
    Der Vater war fröhlich und dann auch wieder ernst, während er aus dem weichen Innenteil des Brots Kügelchen knetete. Ab und zu trank er einen großen Schluck Wein. Der Mann wandte sich an Joana und sagte:
    »Weißt du, dass das Schweinchen ro-ro-ro macht?«
    Der Vater antwortete:
    »Du hast kein Talent für so was, Alfredo.«
    Der Mann hieß Alfredo.
    »Siehst du denn nicht, dass die Kleine nicht mehr in dem Alter ist, wo man Schweine nachmacht?«
    Da lachten sie, auch Joana. Der Vater gab ihr noch einen Hühnerflügel, und sie aß ihn ohne Brot.
    »Was für ein Gefühl ist es eigentlich, so eine Kleine zu haben?«, fragte der Mann kauend.
    Der Vater wischte sich mit der Serviette den Mund ab, neigte den Kopf zur Seite und sagte lächelnd:
    »Manchmal ist es wie ein warmes Ei, das du in der Hand hältst. Manchmal gar nichts: vollkommener Gedächtnisschwund … Hin und wieder das Gefühl, ein kleines Mädchen zu haben, das wirklich mir gehört.«
    »Mädchen, Mädchen, Rädchen, Städtchen, Lädchen …«, trällerte der Mann zu Joana gewandt. »Was willst du sein, wenn du eine junge Dame bist und so?«
    »Was das und so betrifft, hat sie selbst noch nicht die geringste Vorstellung, mein Lieber«, erklärte der Vater. »Aber wenn sie nichts dagegen hat, erzähle ich dir gern von ihren Plänen. Sie hat zu mir gesagt, dass sie ein Held sein wird, wenn sie groß ist …«
    Der Mann lachte und lachte. Plötzlich hörte er auf, griff nach Joanas Kinn, und während er es festhielt, konnte sie nicht weiterkauen:
    »Du wirst doch nicht weinen, weil das Geheimnis nun gelüftet ist, was, Kleine?«
    Dann unterhielt man sich über Dinge, die sicher geschehen waren, bevor sie auf die Welt gekommen war.
    Manchmal ging es nicht einmal um solche Dinge, die geschehen, nur Worte – aber auch die waren aus der Zeit vor ihrer Geburt. Sie hätte es tausendmal lieber gehabt, wenn es geregnet hätte, weil es dann viel einfacher gewesen wäre, ohne Angst vor der Dunkelheit einzuschlafen. Die beiden Männer holten ihre Hüte, um wegzugehen; da stand sie auf und zog ihren Vater am Jackett:
    »Bleib doch noch …«
    Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu, und einen Moment lang wusste sie nicht, ob sie bleiben würden oder gehen. Aber als der Vater und sein Freund ein bisschen ernst dreinblickten und nach einer Weile beide zu lachen anfingen, wusste sie, dass sie bleiben würden. Wenigstens so lange, bis sie müde genug wäre, um sich schlafen zu legen, ohne den Regen zu hören, ohne Menschen zu hören, in Gedanken bei dem restlichen dunklen, leeren, stillen Haus. Sie setzten sich hin und rauchten. Das Licht begann vor ihren Augen zu flimmern, und am nächsten Tag würde sie, sobald sie wach wäre, nach den Hühnern auf dem Nachbarhof sehen, weil sie heute gebratenes Huhn gegessen hatte.
    »Ich konnte sie einfach nicht vergessen«, sagte der Vater. »Nicht, dass ich immerzu an sie gedacht hätte. Hin und wieder ein Gedanke, wie ein Merkzettel für später. Später kam, und ich dachte doch nicht weiter darüber nach. Da war nur dieser leichte schmerzlose Stachel, ein gerade mal angedeutetes Ach ja!, flüchtiges Nachdenken und dann das Vergessen. Sie hieß …«, er sah zu Joana hinüber, »sie hieß Elza. Ich erinnere mich, dass ich ihr sogar gesagt habe: Elza klingt wie ein leerer Sack. Sie war schmal, etwas gebeugt – du weißt, was ich meine, oder? –, voller Macht. Sie war so schnell und hart in ihren Schlussfolgerungen, so unabhängig und bitter, dass ich sie, als wir zum ersten Mal miteinander sprachen, derb nannte! Stell dir vor … Sie lachte, dann wurde sie ernst. Damals versuchte ich mir vorzustellen, was sie wohl nachts machte. Denn es erschien mir unvorstellbar, dass sie schlief. Nein, sie gab sich nie hin. Und sogar diese welke Farbe – zum Glück hat die Kleine sie nicht –, diese Farbe passte zu keinem Nachthemd … Sie verbrachte die Nacht sicher mit Beten, betrachtete vielleicht den Himmel, wachte für jemanden. Ich hatte ein schlechtes Gedächtnis, konnte mich nicht einmal
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