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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe
Autoren: Harry Nutt
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zu.
Von der Hand in den Mund
jedenfalls berichtet von der Selbstwahrnehmung künstlerischer Anfänge, in der Entschlusskraft und Versagensangst sich noch die Waage halten. Zu dieser Ambivalenzerfahrung passt die Verunsicherung durch ein plötzlich auftretendes körperliches Defizit. Der Schriftsteller als junger |189| Mann kann nicht mehr laufen. »Irgendwann im Lauf der Reise war mir ein Zehnagel eingewachsen, und wenn sich das heute vielleicht auch komisch anhört, fand ich es damals ganz und gar nicht zum Lachen. Mein großer Zeh fühlte sich so an, als ob eine Messerspitze darin steckte. Das Gehen war eine einzige Qual, und dennoch tat ich von morgens bis abends nichts anderes, als in meinen zu engen und längst durchgelaufenen Schuhen durch Dublin zu humpeln.«
    Was folgt, ist nicht die Beseitigung der Quelle der Behinderung. Der Icherzähler arrangiert sich mit der Situation. Auf diese Weise entsteht ein grandioses Missverhältnis zwischen den Omnipotenzphantasien des werdenden Dichters und der kläglichen Erscheinung des jungen Mannes. »Dass ich mit den Schmerzen leben konnte, fand ich bald heraus, aber die Anstrengung, die mich das kostete, trieb mich nur noch weiter in mich selbst hinein und machte mich als geselliges Wesen vollends unbrauchbar. In der Pension hatte ein bärbeißiger amerikanischer Sonderling seinen festen Wohnsitz – ein siebzigjähriger Ruheständler aus Illinois oder Indiana –, der mir, sobald er von meinem Zustand erfuhr, endlose Geschichten von seiner Mutter erzählte, die sich jahrelang nicht richtig um ihren eingewachsenen Zehnagel gekümmert hatte, nur diverses Zeug aus der Hausapotheke – Desinfektionsmittel, Wattebäusche – angewendet, aber den Stier nicht bei den Hörnern gepackt hatte, und siehe da, schließlich hatte sie Zehenkrebs, der sich am ganzen Fuß und von dort ins Bein und weiter nach oben ausbreitete, bis sie am Ende daran starb. Er erging sich mit Wonne in den grauenhaften Details ihres Ablebens (selbstverständlich nur zu meinem Besten) und als er merkte, wie empfänglich ich für seine Darstellungen war, tischte er mir das Ganze immer wieder von neuem auf. Und ich will nicht bestreiten, dass er mir Angst eingejagt hat.«
    Die Bereitschaft, sich in fremder Umgebung eher still zurückzuziehen als im buchstäblichen Sinn triumphierend aufzutreten, |190| geht weit über eine experimentelle Reduktion hinaus und weckt Todesphantasien. »Das lästige Ärgernis war zu einer lebensgefährlichen Krankheit geworden, und je länger ich es aufschob, etwas dagegen zu unternehmen, desto schlechter wurden meine Aussichten. Jedesmal wenn ich auf dem Weg in die Stadt an der Klinik für die unheilbar Kranken vorbeifuhr, wandte ich den Blick ab. Die Worte des alten Mannes ließen mich einfach nicht mehr los. Mein Untergang war nahe, überall sah ich Hinweise auf meinen baldigen Tod.«
    Paul Auster hat sich aus seiner Isolation schließlich doch wieder befreien können. Seine Geschichte ist jedoch ein Indiz dafür, wie Selbstmodellierung und die Tendenzen zur Verwilderung einander durchdringen. Es will einfach nicht immer und jederzeit gelingen, sich mit sich selbst anzufreunden.

|191| Ans Limit
    »Aber Verlierer wissen: auch siegen ist nur der Anfang einer anderen Qual.«
    Wolf Wondratschek
    Wer schütteres Haar oder einen schlechten Charakter vererbt bekommen hat, der kann heutzutage schon allerhand dagegen tun. Die Arenen der Selbstoptimierung haben durchgehend geöffnet, und es mangelt zur Verbesserung der misslichen Lage nicht an Hilfsmitteln. Zur Sorge um sich werden Pulver und Salben sowie adrette Stirnbänder und Wind abweisende Textilien angeboten. Je nach Bedarf und Laune können geräumige Hallen für Selbstmontage aufgesucht sowie professionelle Präzisionsangebote wahrgenommen werden. Es gibt immer was zu tun. Mit Blick auf ein besseres oder wenigstens anderes Leben wird geschwitzt und gefastet, aufgespritzt und abgesaugt, neu vermessen und nachjustiert. Dabei steht der Körper im Zentrum einer nicht nachlassenden Aufmerksamkeit, und es gibt keinen Makel, dem nicht mit Leibesertüchtigung,
indoor
wie
outdoor
, beizukommen wäre. Kein Unwohlsein, für das die einschlägigen Magazine nicht bereits ein entsprechendes Mentalprogramm getestet hätten. Der Wille zur Veränderung zählt, und der Wahl der Waffen sind bei
health care
und forcierter Selbstmodellierung keine Grenzen gesetzt. Es geht munter unter und durch die Haut. Die Kennzeichnungen der plastischen Chirurgie
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