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219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung
Autoren: Mia Zorn
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Der schwarze Prinz spürte kalte Finger, die sich um seinen Hals legten. »Nein!«, keuchte er um sich schlagend. »Nein!«
    Noch während er sich aus dem Würgegriff zu befreien versuchte, begriff er, dass es seine Finger waren, die da an seinem Hals zerrten. Dass es seine Stimme war, die sich durch seine brennende Kehle quälte. Dass er nicht vor einer Ruine lag, sondern auf einem Lager aus Decken und Stroh. Keuchend setzte er sich auf.
    Ein Traum. Nur ein hässlicher Traum. Victorius atmete schwer. Das Herz klopfte hart gegen seine Rippen. Die Sonne schien durch den bogenförmigen Eingang der Hütte und tauchte den großen Innenraum in ein warmes, goldenes Licht.
    Misstrauisch schaute der Prinz sich um. Alles war wie immer: an der gegenüberliegenden Wand der Kessel an der rostigen Kette, darunter knisterte verglühendes Holz, daneben die flache Steinplatte, die übersät war mit gebrauchtem Geschirr: Schüsseln und Schalen, aus denen Pflanzenknollen und Wurzelgeflecht wie bizarre Insekten hervorlugten. Dahinter das Regal aus hellen Brettern. Es reichte bis unter die Decke. Voll gestopft mit Büchern und unzähligen Dosen und Säckchen.
    Victorius wusste: Kleine Zettel mit krakeligen Buchstaben unter jedem der Behältnisse verrieten die Namen der Gewürze und Kräuter, die sich darin befanden. Pflanzensträußchen, getrocknete Fische, Felle und Werkzeuge hingen in der vertrauten Reihenfolge von den Eisenhaken an den beiden Deckenbalken, die sich senkrecht durch die Behausung zogen. In der Mitte des Raumes lagen bunte Kissen im Kreis um das große Tablett mit den beiden Bechern und der Wasserpfeife. Alles war an seinem Platz.
    Nur das Lager des Eremiten war leer. Aber das beunruhigte den Prinzen nicht. Member stand immer vor dem Morgengrauen auf, um mit seinem Boot auf den See zu fahren oder im Wald nach Kräutern und Wurzeln zu suchen.
    Von draußen drangen Vogelgezwitscher und das Klappern von Schüsseln an Victorius’ Ohr. Selbst diese vertrauten Geräusche verscheuchten nicht gänzlich den Albdruck, der auf ihm lastete.
    Der Prinz griff nach dem Laken, das seinen nackten Körper bedeckte, und presste es vor sein schweißnasses Gesicht. Nacht für Nacht wurde er von diesen Träumen geplagt. Sie legten sich wie dunkle Schatten auf sein Gemüt und machten ihn langsam mürbe. Morgen für Morgen die bange Frage, ob er sich noch in der richtigen Zeit, am richtigen Ort befand. Mon dieu! So konnte es nicht weiter gehen!
    Die Stimme des Eremiten störte ihn in seinen trüben Gedanken. »Aufgewacht, Söhnchen? Komm zu mir in die Sonne!«
    »Hmmm«, machte Victorius widerwillig. Er trocknete sein Gesicht und schlüpfte in seine Hose, die auf einem Hocker neben seinem Bett lag. Member hatte sie ausgebessert. Sie war mit Lederflicken übersät.
    Victorius lebte seit Wochen in der Hütte des Eremiten. Der hatte ihn vor einem Monat mit einer Kopfverletzung und hohem Fieber halbtot im Wald gefunden und gesund gepflegt.
    Immer wieder erzählte der Alte die Geschichte, wie er ihn gefunden hatte: »Das war seltsam, Söhnchen. Ein Flötenspiel lockte mich zum Waldrand im Norden. Und da lagst du. Neben deinem Kopf diese lustige Haube…« An dieser Stelle brach der Alte regelmäßig in Gekicher aus und hob an zwei Fingern Victorius’ pinkfarbene Perücke empor. »Nur das Ding hier! Sonst hattest du nichts bei dir. Auch keine Flöte.« Nach diesen Worten pflegte er Victorius nachdenklich anzuschauen. »Also kannst du es nicht gewesen sein, der da gespielt hat. Aber sonst war niemand zu sehen. Niemand…« Er sprach jetzt mehr zu sich selbst als zu dem Prinzen. »Du kamst aus dem Norden, Jungchen. So wie deine Haut aussieht, musst du die Große Wüste durchquert haben.«
    Tatsächlich waren Victorius’ Gesicht, Arme und Brust von gerade verheilten Brandblasen überzogen. Dünne rosa Haut an seinen Sohlen erinnerten ihn an seine verbrannten Füße: Es war, als ob er stundenlang auf glühenden Kohlen gelaufen wäre. Seine Schuhe musste er verloren haben. Und nicht nur die Schuhe. Auch Titana, seine kleine, telepathisch begabte Fledermaus, war verschwunden.
    Das Schlimmste aber war der Verlust seiner eigenen mentalen Fähigkeiten: Er war nicht mehr in der Lage zu lauschen ! Oder war Member selbst ein Telepath und schottete sich ab? Nein, er hätte auch die Anwesenheit der Tiere ringsum wahrnehmen müssen.
    Victorius seufzte. War ihm mit der Erinnerung an die letzten Monate auch seine Gabe verlustig gegangen? Wenn das aktuelle Datum
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