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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Agafja zuhörte, kam es mir manchmal vor, als lebe
sie jenseits der Zeit, als seien ihr die Ereignisse des Vortags nicht näher und
nicht ferner als die Ereignisse vergangener Jahrtausende.
    Sie konnte ihre Familiengeschichte bis ins 17. Jahrhundert
zurückverfolgen. Ihre Vorfahren hatten weit westlich des Urals gelebt, am
Kerschenez, einem Nebenfluss der Wolga, in der Nähe von Nischnij Nowgorod. Ich
hatte von der Gegend gehört – sie gehörte zu den alten Zentren der russischen
Orthodoxie, ein Landstrich voller Klöster und Einsiedeleien, der sich nach der
Kirchenspaltung in eine Bastion des altgläubigen Widerstands verwandelt hatte.
    Der Ort, aus dem Agafjas Vorfahren stammten, hieß Olenewskij Skit – »Hirschkloster«. Agafja zog einen gefalteten Papierbogen aus einem der alten
Bücher. Er war brüchig und bis zur Unkenntlichkeit vergilbt, die handgemalten
Buchstaben hoben sich kaum noch vom Untergrund ab. »Gesang von der Zerstörung
des Hirschklosters«, las Agafja vor. Sie hob den Blick vom Papier und sah mir
in die Augen. »Wir haben das oft in der Familie gesungen, als die anderen noch
lebten.«
    Es war mehr ein Gebet als ein Gesang. In gleichbleibend langen Silben
ohne Rhythmus und Metrum folgte Agafjas Stimme einer Melodie, die nur aus fünf
oder sechs wiederkehrenden Tönen bestand. Das Lied war lang. Es begann mit der
Beschreibung eines irdischen Paradieses.
     
    Einst war am Kerschenez ein Ort
    Der allen Rechtgläubigen Zuflucht bot
    Täglich feierten wir Gottesdienste
    Ununterbrochen war unser Gebet
    Wie Donner hallten unsere Glocken.
     
    Während Agafja sang, versuchte ich mir vorzustellen, wie
das Lied sechsstimmig klingen musste, gesungen von der ganzen Familie, drei bärtige
Bässe, drei helle Sopranstimmen. Ich sah die Lykows vor mir, wie sie die
verlorene Welt ihrer Vorfahren besangen, ein Paradies der Rechtgläubigkeit, das
jäh zerbrochen war, als das Drama der Kirchenspaltung seinen Lauf nahm.
     
    Da fuhren sie ein, die unbarmherzigen
Richter
    Und verlasen ihre Befehle
    Die Kapellen brachen sie auf
    Vom Altar nahmen sie die Türen
    Und stahlen die heiligen Ikonen
    Um uns den Gottesdienst zu verbieten.
    Wir aber antworteten mit einer Stimme:
    Mit unserem Glauben brechen wir nicht.
     
    So hatte sie begonnen, die lange Flucht, die die Lykows in
die Taiga geführt hatte. Ihre Vorfahren hatten das Ufer des Kerschenez hinter
sich gelassen und waren ostwärts gezogen, von einem Zufluchtsort zum nächsten,
Jahrhundert für Jahrhundert. Das Lied musste unterwegs entstanden sein, auf der
Flucht, und Generationen von Altgläubigen mussten es gesungen haben, während
sie weiter flohen. Noch am Ufer des Abakan, dreitausend Kilometer entfernt vom
Paradies ihrer Vorfahren, sangen die Lykows von einer Flucht, die nie enden
würde.
     
    Wie unser Vorvater Adam sind wir geworden
    Den Gott aus dem Paradies vertrieb
    Weil er die verbotene Frucht aß
    So leben auch wir als Vertriebene
    Um unserer Sünden willen.
     
    Als das Lied zu Ende war, faltete Agafja den Papierbogen und
legte ihn zurück in das Buch, in dem er seit Jahrhunderten lag. Dann sprach sie
über den langen Weg, der ihre Vorfahren an den Abakan geführt hatte. Bisher
hatte ich angenommen, dass die Lykows mehr oder weniger zufällig in dieser
Gegend gelandet waren. Wie sich herausstellte, war es alles andere als ein
Zufall.
    »Sie wollten nach Belowodje«, sagte Agafja.
    Erst war ich nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte – aber Agafja
wiederholte das Wort: Belowodje. Das russische Atlantis. Ein Ort, der auf
keiner Karte verzeichnet ist, ein Märchenreich, das Paradies auf Erden.
    »Sie wussten, dass in Belowodje wahre Christen leben. Und dass es
dort Kirchen gibt. Und Priester. Sogar Bischöfe. Sie wollten in Belowodje
leben.«
    »Und … wie kommt man nach Belowodje?«
    »Gar nicht. Heute nicht mehr. Der Weg ist verschlossen.«
    »Und früher?«
    »Früher war es sehr schwierig. Unsere Vorfahren hatten eine
Wegbeschreibung, aber es gibt sie nicht mehr, sie ist verloren gegangen. Vater
kannte sie noch, er hat mir davon erzählt.«
    Staunend hörte ich zu, während Agafja versuchte, aus den Erzählungen
ihres Vaters den Fußweg ins Paradies zu rekonstruieren. Ich schrieb hektisch
mit, aber als ich später meine Aufzeichnungen durchlas, taugten sie nicht viel
als Wegbeschreibung. Ich begriff nur, dass die Vorfahren der Lykows zweimal
hintereinander versucht hatten, aus der Welt auszuwandern. Beim ersten Mal
gingen sie nach Norden, an
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