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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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gesagt – solange du
betest, werden die Höhlenmenschen nicht auf dich schießen. Betend zog Alexej
los. Als er ankam, krochen zwei Höhlenmenschen aus der Erde und nahmen das
Paket entgegen. Sie erkundigten sich, wie es draußen in der Welt aussehe –
immer noch schlecht? Alexej nickte – immer noch schlecht. Die Höhlenmenschen
schüttelten traurig die Köpfe und krochen zurück in ihre Höhlen.
    »Hans Christian Andersen«, knurrte Ljonja.
    »Es ist wahr! Achtundzwanzig Menschen leben dort. Ich habe nur zwei
gesehen, aber sie haben mir alles erzählt. Im Sommer sammeln sie Vorräte, im
Winter verschließen sie die Höhlen von innen und kommen erst im Frühjahr wieder
raus.«
    »Wie Bären«, sagte ich staunend.
    Abrupt sprang Ljonja von der Ofenbank auf. Erst als er laut wurde,
merkte ich, wie aufgebracht er war. »Märchenerzähler! Pass auf, was du Jens in
den Kopf setzt! Wenn er das alles aufschreibt, lacht ganz Deutschland über
dich! Höhlenmenschen!«
    »Aber es stimmt!« Alexej klang gekränkt.
    Kopfschüttelnd sah Ljonja ihn an. »Hör zu, ich kenne die Taiga
genauso gut wie du. Wenn hier achtundzwanzig Menschen leben würden, hätte ich
sie längst gesehen. Wo sind ihre Kartoffeläcker? Wo schlagen sie ihr Brennholz?
Warum sieht man nirgendwo Feuerrauch? Man kann sich hier nicht mehr verstecken,
Alexej.«
    Später am Abend traf ich Alexej alleine am Lagerfeuer. »Ljonja will
es nicht wahrhaben«, flüsterte er. »Aber es stimmt. Es gibt hier immer noch
Altgläubige, von denen niemand weiß. Agafja kennt sie, sie spricht bloß nicht
darüber. Nur manchmal rutscht ihr aus Versehen etwas heraus, man muss ihr genau
zuhören, um es zu merken. Manchmal zeigt sie in die Berge und sagt: Da drüben –
und dann beißt sie sich auf die Zunge. Ich merke mir genau, was sie sagt, wohin
sie zeigt. Irgendwann werde ich sie alle finden.«
     
    Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Was Alexej
erzählte, klang märchenhaft und unwahrscheinlich, Ljonjas Argumente waren
einleuchtend. Andererseits hielt ich mich seit Tagen in einer Welt auf, die so
märchenhaft und unwahrscheinlich war, dass ich langsam den Maßstab für
Glaubwürdigkeit verlor. Ich musste an meinen Berliner Freund Juri denken, an
seine Worte über Russland: ein Land, in dem die wahren Geschichten
unglaublicher sind als die ausgedachten.
    Auf dem Weg zu Agafjas Hütte ließ ich den Blick über die Berge
schweifen. Die Taiga wirkte plötzlich seltsam verändert. Vorher hatte ich nur
gleichgültige Endlosigkeit in ihr gesehen, eine angsterregende Abwesenheit von
Menschen. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob irgendwo da draußen
vielleicht nicht doch jemand lebte, ein Mensch, oder zwei, oder viele, die
meine Blicke aus der Ferne erwiderten. Die Taiga starrte mich an.
    Als ich Agafja nach anderen Altgläubigen fragte, schüttelte sie
vehement den Kopf.
    »Nur eine einzige Familie hat überlebt. Nur eine, mehr nicht. Wenn
es andere gab, sind sie längst gestorben.«
    Sie wirkte unruhig in dieser letzten Nacht. Während sie sprach,
stand sie immer wieder auf und trat ans Fensterbrett, um im Mondlicht
Papierbögen auszubreiten und sie mit ihren gemalten Kirchenbuchstaben zu
beschreiben. Sie beantwortete die Briefe, die ich ihr mitgebracht hatte. Es
fiel ihr schwer. Über jede Formulierung dachte sie lange nach, halblaut sprach
sie die Sätze mit. Besonders der Brief an ihre Verwandten in Kilinsk ging ihr
nicht von der Hand. Mehrfach las sie mir vor, was die Cousinen ihr geschrieben
hatten: Komm doch zu uns, warum willst du nicht bei uns leben, wie oft haben
wir es dir angeboten?
    »Ich kann nicht bei ihnen leben. Das Wasser, ich vertrage es nicht,
halb tot war ich, als sie mich zurück nach Hause brachten. Gestritten haben wir
uns. Die Cousinen sagten: Die Erde dreht sich, sie kreist um die Sonne. Ich las
ihnen aus der Schrift vor: Die Erde steht unbeweglich.«
    Während sie weitersprach, bereute ich plötzlich, dass ich nach
Kilinsk gefahren war. Der Brief, der ohne mein Zutun nie geschrieben worden
wäre, rührte an alte Wunden. Agafja quälte sich. Ihr Entschluss, die Taiga
nicht zu verlassen, stand fest, aber sie wollte die Cousinen nicht kränken.
    Am Ende antwortete sie ihnen mit einem Bibelgleichnis. Ich verstand
nur halb, worum es ging: Simon, Jerusalem, eine dunkle Warnung – der Rest
entglitt mir, während Agafjas Gesang aus der biblischen Vergangenheit zurück in
die Gegenwart fand.
    »Ich werde hierbleiben. Wo sollte ich hingehen? Ich
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