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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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drei unerwartete Erlebnisse pro Jahr garantiere. Die
Mitarbeiter der »Agentur des kontrollierten Zufalls«, allesamt ehemalige KGB -Agenten, kundschafteten den Alltag ihrer Klienten
bis ins Detail aus: Auf dem Bildschirm erschienen Männer mit harten, grauen
Gesichtern, flüsternd über Karten gebeugt, mit Ferngläsern und Kameras
hantierend. Zum passenden Zeitpunkt ließen sie scheinbar zufällig attraktive
Frauen den Weg ihrer Opfer kreuzen – im Fahrstuhl, an der Tankstelle, im
Strandcafé, auf dem Golfplatz. Aus wackliger Geheimdienstperspektive ließ der
Film den Zuschauer einige dieser inszenierten Zufallsbegegnungen miterleben,
deren erotischer Ausgang zu erahnen war, sobald die Kamera diskret zur Seite
schwenkte.
    Gegen Ende des Films kam erneut Igor S. zu Wort. Der Club habe sein
Leben verändert, sagte er. Da er nie wisse, wann der kontrollierte Zufall in
sein Leben einbreche, begegne er grundsätzlich jeder Frau wie einer
potenziellen Agentin des Clubs – und erlebe so nicht drei Abenteuer im Jahr,
sondern Dutzende. Grinsend zündete er sich eine Zigarre an. Schnitt. Werbung.
    Juri sah uns abwartend an.
    »Ist ja unglaublich«, sagte ich. »Dieser Club – wer kommt auf so
was?«
    Kristina sagte gar nichts. Sie starrte nur stumm auf den Bildschirm.
    » Ich komme auf so was«, sagte Juri. »Den Club gibt es nicht. Die Geschichte ist
erfunden. Die Darsteller sind Freunde von mir.«
    Kristina schwieg. Ich lächelte unsicher.
    »Wisst ihr«, sagte Juri, »die wahren Geschichten in Russland sind
unglaublicher als alles, was ich mir ausdenken könnte. Bloß kauft mir die in
Deutschland niemand ab. Also erzähle ich die Geschichten, die man hier über
Russland hören will.«
    Ich fühlte mich ertappt. Tatsächlich hatte der Film das unklare Bild
bestätigt, das ich mir von Juris Heimat machte.
    Kristina räusperte sich. Ihr sei da gerade ein Termin eingefallen,
sagte sie, den habe sie ganz vergessen. Sie müsse dringend los.
    Ich blieb noch eine Weile. Gemeinsam aßen Juri und ich den Konfekt
auf. Er erzählte von Russland, von seinem Studium, seiner Karriere im
russischen Privatfernsehen. Es war gut gelaufen für ihn, aber irgendwann hatte
er Moskau einfach nicht mehr ausgehalten und war nach Berlin gegangen. Er
kannte niemanden in Deutschland, trotzdem hatte er es geschafft, ein kleines
Studio aufzubauen, das halbwegs erfolgreich Fernsehfilme verkaufte.
    Ich fragte, was an Moskau so schlimm gewesen sei. Juri überlegte
einen Moment. »Russland ist ein ziemlich interessantes Land«, sagte er. »Und
genau das ist das Problem. Es ist zu interessant. Es passiert zu viel. Du weißt morgens
nicht, wie der Tag endet.«
    Er führte diesen Gedanken noch eine Weile aus. Ich hörte schweigend
zu, während irgendwo in meinem Kopf eine lautlose, langfristige Weichenstellung
stattfand. Ich versuchte, mir ein Land vorzustellen, in dem zu viel passiert.
Ein Land, in dem die wahren Geschichten unglaublicher sind als die
ausgedachten.
    Am nächsten Tag rief Kristina mich an. Sie wollte ihre
journalistische Karriere nicht mit getürkten Fernsehfilmen beginnen. Sie hatte
Juri das Praktikum abgesagt.
    Ich rief Juri an und sagte zu.
     
    Bevor ich Juri kennenlernte, war Russland ein weißer Fleck
auf meiner inneren Landkarte. Genauer gesagt: ein Loch.
    Als Kind hatte ich ein großes Puzzle. Zusammengesetzt zeigte es die
Weltkarte. Jedes Land hatte seine eigene Farbe. Manche Farben füllten viele
Puzzleteile, andere nur wenige. Einige Länder – Liechtenstein, Malta, Andorra –
waren so klein, dass sie sich ihr Puzzleteil mit anderen Ländern teilen
mussten. Das waren die einfachen Länder. Man wusste gleich, wo sie hingehörten.
    Es gab sehr viele olivgrüne Puzzleteile. Das war die Sowjetunion.
Sie war größer als jedes andere Land, viel größer. Die Sowjetunion war das
schwierigste Land von allen. Sie war schwieriger als die Ozeane, die natürlich
noch viel größer waren, aber bei denen konnte man sich an die Längen- und
Breitengrade halten, die ihr helfendes Netz über alle hellblauen Puzzleteile
spannten. In der Sowjetunion gab es keine Linien, nur einförmig olivgrüne
Puzzleteile, die alle gleich aussahen. Jedes Mal, wenn ich das Puzzle
zusammensetzte, ließ ich die Sowjetunion bis zum Schluss übrig. Und in diesem
Stadium hat sich mir die Weltkarte eingeprägt: ein buntes Puzzle mit einem
großen, frustrierenden Loch oben rechts.
     
    Als im Herbst 2000 mein Praktikum begann, hatte Juri das
Interesse an erfundenen
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