Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
Altgläubigen, wie man die
Reformgegner bald nannte, lehnten Nikons Irrlehren so vehement ab wie den
Vormarsch des Westens. Ihr Zwei-Finger-Kreuz wurde zur Widerstandsgeste gegen
ein Russland, das in jeder Hinsicht seine Wurzeln verriet.
    Die Zeiten änderten sich. Möglicherweise, die Altgläubigen
vermuteten es, näherte sich die Welt sogar ihrem prophezeiten Ende, vieles
sprach dafür. Als der Religionsstreit seinen blutigen Höhepunkt erreichte, schrieb
man in Russland das Jahr 7174 – die Zeitrechnung ging auf die Erschaffung der
Welt zurück. Im Westen dagegen, wo man die Jahre seit Christi Geburt zählte,
stand eine andere Zahl in den Kalendern, eine schreckliche: 1666. Kein Zweifel:
Die Ausländer mussten Sendboten der Apokalypse sein.
    Während Russland westwärts driftete, flohen die Altgläubigen
ostwärts. Verfolgt von den Schergen des Patriarchen retteten sie sich in dünn
besiedelte Randgebiete des russischen Reichs. Sie gründeten Kommunen, in denen die
Zeit stillstand, in denen nichts den Geist des alten Russlands verwässerte,
kein Tabak und kein Kaffee, kein Rasiermesser und kein Uhrwerk, kein Halleluja
zu viel, kein Altarbrot zu wenig.
    Jahrhunderte vergingen. Wann immer die Altgläubigen unter Druck
gerieten, zogen sie sich einfach ein Stück tiefer in die sibirischen Wälder
zurück. Das ging gut, bis 1917 im fernen Sankt Petersburg eine Revolution
ausbrach, die Russland in ein neues Blutbad stürzte. Die Missionare, die nun in
den Dörfern der Altgläubigen auftauchten, schlugen das Kreuz nicht mit zwei
Fingern und nicht mit dreien, sie bekreuzigten sich überhaupt nicht.
Stattdessen predigten sie Wahrheiten, die ihnen ein deutscher Philosoph
eingeflüstert hatte: Religion ist Rauschgift, es gibt keinen Gott.
    Die Altgläubigen taten, was sie immer getan hatten: Sie flohen
tiefer in die Wildnis. In den Dreißigerjahren aber, als die sowjetische
Landwirtschaft kollektiviert wurde, drangen Planungskommandos bis in die
entlegensten Siedlungen vor. In einer kleinen Gemeinde in Südsibirien stießen
sie auf Widerstand. Ein Schuss fiel, ein Altgläubiger starb. Entsetzt beschloss
der Bruder des Getöteten, der Welt endgültig den Rücken zu kehren. Mit seiner
Frau und zwei kleinen Kindern wanderte Karp Lykow in die Wildnis aus. Als
wenige Jahre später seine jüngste Tochter Agafja zur Welt kam, hatte sich das
alte Russland in einen winzigen Winkel der Taiga verkrochen.
     
    Wieder und wieder las ich den Zeitungsausschnitt. Draußen
schlugen Regentropfen auf das Fensterblech. Drinnen geriet mein Puzzle in
Bewegung.
    Es kam mir vor, als habe der Zufall mir ein winziges, auf den ersten
Blick nebensächliches Detail in die Hände gespielt, an dem auf rätselhafte
Weise das halbe Puzzle hing. Die Lykows und ihre Vorfahren hatten an den entscheidenden
Weggabelungen der russischen Geschichte konsequent die Gegenrichtung
eingeschlagen. Auf historischen Nebenpfaden war Agafja Lykowa in der Taiga
gelandet – und nach allem, was die Zeitungsnotiz hergab, lebte sie dort noch
immer. Sie war die letzte Bewohnerin eines Russlands, das es nach ihrem Tod
nicht mehr geben würde.
    Ich las die Notizen durch, die ich an den Rand der Zeitungsnotiz
gekritzelt hatte: Kiew 988, Moskau 1666, Petersburg 1917, Sibirien 1978. Es las
sich wie Stationen einer Reise.
    Ich bat meinen Chefredakteur um ein Jahr Urlaub und verabschiedete
mich von meinen Freunden. Eines Wintermorgens bestieg ich am Bahnhof Zoo einen
überheizten Nachtzug. Im Nebenabteil saß ein junges polnisches Pärchen, dessen
Liebesgeflüster durch den menschenleeren Korridor zischelte, während sich der
Waggon mit geisterhafter Lautlosigkeit in Bewegung setzte. Erst als der
Tiergarten an den Fenstern vorbeizog, verlor sich ihre konsonantische Romanze
im lauter werdenden Schwellenschlag der Räder.

Russland ist kein Land
    Polen begann mit den violett schimmernden Eisschollen der Oder und
mündete in ein Crescendo aus Stacheldraht und Uniformen. Ein Schild mit der
Aufschrift »Dorohusk« schob sich vor mein Abteilfenster, als der Zug bremste.
Militärstiefel traten Tanzschrittmuster in den Schnee. Ein paar hastig sanierte
Verwaltungsbauten wirkten überfordert mit der historischen Aufgabe, die man
ihnen auf ihre alten Tage zumutete: Sie waren jetzt Bastionen der Europäischen
Union. Unerwartet war der Horizont eines Kontinents vor ihre Fenster gerückt.
Überrumpelt bewachten sie ihn.
    Auf meiner Reise war die polnisch-ukrainische Grenze die erste von
vielen mehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher