Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
oder weniger willkürlichen Trennlinien zwischen Europa und jenem
namenlosen, unkonturierten Hinterland, das nicht, oder nicht mehr, oder noch
nicht, oder nicht ganz zu Europa gehört, gehören will oder darf, soll oder
muss, kann oder könnte – wer weiß es schon. Mit Klarheit lässt sich über solche
Grenzen nur sagen, dass hinter ihnen die Unklarheiten beginnen.
    Auf den Seitenwechsel wurde der Zug behutsamer vorbereitet als die
Passagiere. Als wir das Niemandsland zwischen den Schlagbäumen erreicht hatten,
entkoppelten Arbeiter in Blaumännern die Waggons und rollten sie auf
Hebebühnen. Der Reihe nach wurden die Radgestelle ausgetauscht, um den Zug für
das breitere Schienennetz zu rüsten, das hinter der Grenze beginnt und bis an
die Pazifikküste reicht. Die russischen Gleise liegen, wie mir einer der
Arbeiter erklärte, 85 Millimeter weiter auseinander als die europäischen, der
Austausch des Fahrwerks dauert je nach Zuglänge bis zu drei Stunden. Ich
notierte die Zahlen mit dem Gefühl, dass irgendwo in dieser simplen Formel der
komplizierte Unterschied zwischen Europa und Russland verborgen sein musste.
    Auf der ukrainischen Seite der Grenze prüfte eine junge Zöllnerin
unsere Pässe. Sie war kaum im Korridor verschwunden, als mein russischer
Abteilnachbar losprustete: »Hast du das gehört?« Er gluckste vor Vergnügen.
    »Was?«
    »Diese Sprache!« Kichernd hob er seine Stimme um zwei Oktaven und
imitierte die Zöllnerin: » Dokumenty, bud lasko! « Einen Moment ließ er das weiche
Zwitschern der ukrainischen Laute nachhallen, bevor er zurück in seine
russische Muttersprache wechselte. »Wie Kinder sprechen sie! Ach, diese süßen
Ukrainer!« Seine speckigen Wangen bebten vor Lachen.
    Oleg kam aus Moskau, er arbeitete als Handelsvertreter für einen
ehemaligen Staatskonzern und war seit fast drei Jahrzehnten auf der Zugstrecke
Moskau-Warschau unterwegs. Er hatte die Ukraine fast so oft durchquert wie sein
Wohnzimmer, aber erst spät war ihm klar geworden, dass die Bewohner dieser
Nachbarrepublik eine eigene Sprache hatten. Es war das Jahr, in dem Olegs Firma
und die Ukraine zeitgleich entschieden, kein sowjetisches Staatseigentum mehr
zu sein. An beides hatte sich Oleg nie gewöhnt. Die Privatisierung seines
Unternehmens hatte ihm steile Stressfalten in die Stirn gegraben. Die
Unabhängigkeit der Ukraine dagegen amüsierte ihn grenzenlos.
    »Am Anfang haben sie sich noch geschämt. Im Zug haben sie nur leise
miteinander getuschelt, wie Kinder, die was ausgefressen haben. Erst als die
Zöllner anfingen, Ukrainisch zu sprechen, haben sich langsam auch die
Passagiere getraut. Und heute … heute …« – ein Lachanfall verschlug ihm
vorübergehend die Sprache – »… heute tun sie manchmal so, als ob sie mein
Russisch nicht verstehen! Wie Kinder, die sich eine Geheimsprache ausgedacht
haben!«
    Mit dem rechten Fuß schob ich diskret die Abteiltür zu. Oleg sprach
so laut, dass der ganze Waggon sein chauvinistisches Gekicher hören musste –
und wenn es um ihre nationale Ehre geht, verstehen Ukrainer sehr gut Russisch.
    »Vergiss dieses ganze Gerede von Unabhängigkeit«, fuhr Oleg fort.
»Die Ukraine war nie unabhängig, nie! Der östliche Teil war immer russisch, der
Westen polnisch, litauisch, österreichisch. Jetzt haben sie ihr eigenes Land
und denken sich lauter Unsinn aus: eine ukrainische Sprache, eine ukrainische
Geschichte, eine eigene Regierung. Ihre Sprache ist ein Bauerndialekt, ihre
Geschichte ein Märchen, ihr Staat ein Zirkus.« Amüsiert schüttelte er den Kopf.
»Es ist eigentlich überhaupt kein Land.«
     
    Am nächsten Morgen stieg ich trotzdem in Kiew aus, der
Hauptstadt des Landes, das kein Land ist.
    Eis bedeckte die Stadt. In glasigen Schlieren überwucherte es die
Bürgersteige und verlangsamte die Bewegungen der Fußgänger zu tastenden
Tanzfiguren. Alle fluchten – seit Wochen waren die Straßen nicht geräumt
worden, niemand wusste, warum. Rotweißes Flatterband durchzog die Innenstadt
wie die Fäden einer riesigen Kunststoffspinne. Ich duckte mich unter den
Absperrungen durch, wie alle anderen auch. Ihren Sinn begriff ich erst, als
dicht neben meinen Füßen ein riesiger Eiszapfen in tausend Splitter zersprang.
Vorsichtig hob ich den Kopf. Unter den Dachfirsten grinsten die Zahnreihen gläserner
Reptilien.
    Der Dnjepr, der die Stadt in zwei weit voneinander entfernte Hälften
teilt, war komplett zugefroren. Kleine schwarze Punkte zeichneten sich im Weiß
des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher