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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Millionären bevölkert ist, war mir
einigermaßen plausibel vorgekommen. Anatolij Fomenko dagegen kam mir vor wie
eine Figur aus einem unglaubwürdigen Science-Fiction-Film.
    Wieder endete der Tag mit Beuteltee und klebrigem Konfekt. Während
Juri von Russland erzählte, wanderte mein Blick zwischen ihm und dem Bildschirm
hin und her, wo immer noch die Weltgeschichte in Endlosschleife ihren
irritierenden Tanz aufführte. Ich ertappte mich dabei, wie ich meinem Bild von
Juris Heimat ein neues Puzzleteil hinzufügte. Ich versuchte, mir ein Land
vorzustellen, in dem man Geschichte in kleine Stücke hacken und neu
zusammensetzen kann.
     
    Es folgten Jahre des Puzzelns. Kurz nach meinem Praktikum
bei Juri reiste ich zum ersten Mal nach Russland. Ich wollte das Land
kennenlernen. An einem meiner ersten Abende geriet ich in eine Schlägerei
zwischen einem orthodoxen Mönch und seiner heimlichen Geliebten. Ich beschloss,
unbedingt wiederzukommen.
    Ich lernte die Sprache. Einen eiskalten Winter lang belegte ich
einen Kurs am Moskauer Puschkin-Institut, wo eine alternde Puschkin-Liebhaberin
die sechsköpfigen Monstren der russischen Deklination auf mich losließ:
»Puuuschkin! Puuuschkina! Puuuschkinu! Puuuschkina! Puuuschkinym! Puuuschkine!«
    Ich las. Hauptstädte und Herrscher fügten sich in mein Puzzle: Kiew,
Moskau, Sankt Petersburg. Jaroslaw der Weise, Dmitrij der Falsche, Iwan der
Schreckliche, Peter der Große. Zar, Zarja, Zarju, Zarja, Zarem, Zare. Nikolaj
I, Alexander II, Alexander III, Nikolaj II. Revoluzija, Revoluzii, Revoluzii,
Revoluziju, Revoluzijej, Revoluzii. Lenin, Stalin, Chruschtschow. Sozialism,
Sozialisma, Sozialismu, Sozialism, Sozialismom, Sozialisme. Generalsekretär D
wird nach 18 Jahren von Generalsekretär E abgelöst, auf E folgt nach 15 Monaten
F, auf F nach 13 Monaten G, mit dessen sechsjähriger Herrschaft die Sowjetunion
endet. Perestroika, Perestroiki, Perestroike, Perestroiku, Perestroikoj,
Perestroike.
    Ich reiste. Von einem Puzzleteil zum anderen. Ich sah die Gipfel des
Kaukasus, die Wälder Sibiriens, die Vulkane Kamtschatkas. Ich schwamm in der
Moskwa und in der Wolga, im Schwarzen Meer und im Baikalsee. Ich erlebte die
Wirrnis Tschetscheniens, die Revolution in Kiew, den Krieg in Ossetien.
    Zehn Jahre nach meiner Begegnung mit Juri arbeitete ich als
Journalist bei einer Berliner Tageszeitung. Mein Schwerpunkt war Russland. Wenn
irgendetwas passierte, rief mich der Chefredakteur in die Morgenkonferenz und
sagte: »Jetzt erklärt uns der Mühling mal die russische Seele.« Ich erklärte.
Schlechten Gewissens. Denn noch immer empfand ich dieses Russland im Grunde als
das alte Rätsel meiner Kindheit: ein Stapel olivgrüner Puzzleteile neben einem
großen, frustrierenden Loch. Der Stapel wuchs, aber die Teile fügten sich nicht
zu einem Ganzen. Das Land war zu groß, zu widersprüchlich, man wusste kaum, wo
man anfangen sollte. Und was die Zeitungen schrieben, auch was ich selbst
schrieb, ähnelte allzu oft meinen Deklinationstabellen: Putin, Putina, Putinu,
Putina, Putinym, Putine.
     
    In meinem Schreibtisch bewahrte ich in einer großen, unsortierten
Schublade Auszüge aus der russischen Presse auf. Wann immer mir in den
Zeitungen oder im Internet etwas auffiel, schnitt ich es aus und legte es zu
den anderen Zetteln, um später darauf zurückzukommen. An Regentagen, wenn sonst
nichts zu tun war, blätterte ich manchmal die Schublade durch, auf der Suche
nach Geschichten abseits der üblichen Nachrichten.
     
    WISSENSCHAFTLER
ENTSCHLÜSSELN RUSSISCHES GEN
    ÜBERRESTE
ANTIKER SIEDLUNG IM SÜDURAL ENTDECKT
    DONKOSAKEN
FORDERN NATIONALE UNABHÄNGIGKEIT
    PETERSBURGER
PRIESTER WEIHT STALIN-IKONE
     
    Über die Jahre wurde die Schublade mit der Aufschrift
»Russland, Ideen« immer voller. Manche Geschichten verlor ich lange aus den
Augen, bevor sie mir irgendwann wieder in die Finger gerieten. Solche Funde
waren die ergiebigsten, denn mit zeitlichem Abstand erschienen sie mir manchmal
in völlig anderem Licht. So war es auch mit der Geschichte von Agafja Lykowa,
die ich eines Regentags aus dem Wust der Zeitungsausschnitte zog.
     
    ALTGLÄUBIGE
EINSIEDLERIN WILL DIE TAIGA NICHT VERLASSEN
     
    Es war ein kurzer Bericht, der von einer religiösen Eremitin
erzählte. Agafja Lykowa lebte alleine in den Wäldern Südsibiriens, gut
zweihundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Sie gehörte zu den
sogenannten Altgläubigen, einer Splittergruppe der Russisch-Orthodoxen Kirche.
Ihre
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