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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Geschichten verloren. Er beschäftigte sich jetzt mit
Wissenschaftsthemen. Für ein deutsches Fernsehmagazin arbeitete er an einem
Beitrag über einen russischen Mathematiker. An meinem ersten Arbeitstag
erklärte er mir kurz, was ich wissen musste.
    »Der Mann heißt Anatolij Fomenko, und er hat ausgerechnet, dass wir
eigentlich im Jahr 1000 nach Christus leben, nicht 2000.«
    »Aha«, sagte ich. »Gut.«
    Juri hatte Fomenko in Moskau getroffen. Er zeigte mir gefilmte
Interviewausschnitte: In einem Arbeitskabinett saß ein hagerer Mann um die
sechzig, dessen Gesicht hinter einer riesigen Brille schwer zu erkennen war. An
den Wänden hingen Bilder, die Fomenko, wie Juri mir erklärte, selbst gemalt
hatte. Unklar konnte ich schwarz-weiße Fantasielandschaften erkennen, mit
Bergen aus Totenschädeln, zerfließenden Uhren, tanzenden Zahlenkolonnen.
    Wir machten uns an die Arbeit. Juri übersetzte Fomenkos russische
Sätze ins Deutsche, ich überarbeitete sie und schrieb einen Synchrontext. Satz
für Satz gingen wir das Interview durch. Erst gegen Ende hatte ich die
irrwitzige Theorie des Mathematikers ansatzweise verstanden.
    Fomenkos Welt bestand aus Zahlen. Sie waren überall, man musste sie
nur aufspüren. Manchmal versteckten sie sich hinter anderen, falschen Zahlen,
doch Fomenko ließ sich nicht täuschen. Geschichtliche Zahlen behandelte er mit
besonderem Misstrauen – fast alle herkömmlichen Datierungen historischer
Ereignisse hielt er für falsch. Um den echten Zahlen auf die Spur zu kommen,
hatte er eine Methode entwickelt, mit der er historische Chroniken auswertete.
Er befreite solche geschichtlichen Texte zunächst von ihrem nichtmathematischen
Ballast. Im Kern dokumentierte eine Chronik für Fomenko nur eine zeitliche
Abfolge politischer Herrscher: König A wird nach vier Jahren von König B
abgelöst, auf B folgt nach 13 Jahren C, auf C nach zwei Jahren D, mit dessen
siebenjähriger Herrschaft die Chronik endet. Texte, die Hunderte von Seiten
füllten, reduzierte Fomenko so auf kurze Formeln:
     

     
    Das tat er mit sehr vielen Texten. Herodot, Tacitus,
Cicero, Thukydides, die Bibel, die Thora, die Veden, der Koran, der gesamte
historische Erzählschatz der Welt zerschmolz unter Fomenkos Händen zu knappen
Zahlenfolgen. Das Erstaunliche war: Es waren immer wieder die gleichen
Zahlenfolgen. In Chroniken, die historisch weit auseinanderliegende Ereignisse
beschrieben, entdeckte Fomenko identische Muster von Herrschaftsfolgen:
     

     
    Fomenko zog aus diesen Parallelen einen kühnen Schluss:
Die Chroniken beschrieben in Wirklichkeit dieselben Ereignisse, dieselben
Herrscher, denselben Zeitabschnitt. Erst nachträglich waren sie zu
Beschreibungen verschiedener Epochen umgedeutet worden. »Die komplette
geschichtliche Chronologie, die uns im Schulunterricht beigebracht wird«, sagte
Fomenko im Interview mit Juri, »basiert auf Irrtümern, Fälschungen, Lügen und
Manipulationen.«
    Als ich den letzten Satz notiert hatte, sah ich Juri zweifelnd an.
»Glaubst du dieses Zeug?«
    Er dachte eine Weile konzentriert über die Frage nach. »Ich halte
das nicht für eine Frage des Glaubens«, sagte er dann. »Aus logischer Sicht
kann ich keinen Fehler in der Theorie finden.«
    Ich nickte stumm.
    Juri hatte, wie mir in diesem Moment wieder einfiel, bei unserem
ersten Treffen erwähnt, dass er in Moskau Kybernetik studiert hatte. Ich wusste
nicht einmal genau, was Kybernetiker eigentlich tun. Was verstand ich schon von
Logik?
    Um Fomenkos Arbeitsweise zu veranschaulichen, hatte Juri eine
Computeranimation entworfen. Eine Zeitleiste erschien auf dem Bildschirm,
unterteilt in Felder unterschiedlicher Länge, die mit den Namen großer
Herrscherdynastien beschriftet waren. Anfangs ruhte die Zeitleiste in sich,
dann begann der große Fomenko-Tanz: Einzelne Felder lösten sich aus ihrer
geschichtlichen Verankerung und wanderten heimatlos die Zeitleiste auf und ab,
bis sie Felder identischer Struktur fanden, mit denen sie geisterhaft
verschmolzen. Die Habsburger gingen im Römischen Reich Deutscher Nation auf,
die Romanow-Dynastie verwuchs mit den Karolingern, aus Karl dem Großen wurde
Iwan der Schreckliche. Uhren zerflossen, Zahlenkolonnen tanzten, 2000 Jahre
Geschichte schüttelten ihre Krebsgeschwüre ab, 1000 Jahre blieben übrig.
    Zögernd sah ich Juri an. Er grinste. Mir dämmerte in diesem Moment
ansatzweise, was er mit den wahren und den erfundenen Geschichten gemeint
hatte. Dass Russland von verrückten
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