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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Nicht
jeder verstand sich auf Anhieb mit ihnen – sie stanken, sie redeten wirres
Zeug, sie hatten Angst vor Bohrmeißeln und Dieselgeneratoren. Jerofej aber
mochte die Lykows sofort. Er schloss sie in sein sibirisches Bärenherz.
    Zehn Jahre später wurde die Geologensiedlung geschlossen. Ein paar
Jahre lang arbeitete Jerofej weiter als Bohrmeister, auf den Ölfeldern
Sibiriens. Bald aber spürte er, dass ihm etwas fehlte. Erst wusste er nicht,
was es war. Dann begriff er, dass er die Taiga vermisste. Immer öfter dachte er
zurück an die Lykows, diese seltsamen Menschen, die in ihrer selbst gewählten
Einsamkeit so glücklich wirkten. Vielleicht, dachte Jerofejew, ist es die
Einsamkeit, die sie glücklich macht.
    Er gab seinen Beruf auf. Jerofej wurde Pelzjäger. Ganze Winter
verbrachte er alleine in der Taiga, einquartiert in winzigen Jagdhütten, weit
entfernt von allen Menschen, umgeben nur von Schnee und Zirbelkiefern. Es war
die glücklichste Zeit seines Lebens.
    Sie endete mit einem Unglück. Eines Tages erfroren Jerofej in der
Taiga zwei Zehen. Es war Winter, er saß in der Jagdhütte fest, er konnte keine
Hilfe holen. Als ihn im Frühjahr ein Hubschrauber abholte, war sein ganzer Fuß
schwarz.
    Im Krankenhaus schnitt man ihm die Zehen ab. Die Wunde heilte nicht.
Man amputierte ihm den Fuß. Die Wunde eiterte. Man trennte Jerofej schließlich
das komplette Bein ab, nur ein Stumpf vom Oberschenkel blieb übrig. Der Schmerz
ließ nicht nach. Eines Tages nahm ein Arzt Jerofej zur Seite, er erklärte ihm,
dass auch das zweite Bein in Gefahr sei.
    »Was kann ich tun?«, fragte Jerofej.
    »Nicht viel«, sagte der Arzt. »Meiden Sie Infektionsherde. Am besten
ziehen Sie aufs Land, in ein möglichst keimfreies Umfeld.«
    So entschied Jerofej, in die Taiga auszuwandern.
    Ein paar Jahre vorher war Agafjas Vater gestorben. Jerofej wusste,
dass die Einsiedlerin Hilfe brauchte. Er wusste auch, dass ein Einbeiniger in
der Taiga keine große Hilfe ist. Aber ein Einbeiniger ist immer noch besser als
kein Zweibeiniger.
    Jerofejs Sohn brachte ihn in die Taiga. Gemeinsam beluden sie das
Boot mit ein paar Habseligkeiten, dann fuhren sie los. Als sie ankamen, baute
der Sohn am Flussufer eine kleine Hütte für den Vater, ein paar hundert Meter
von Agafja entfernt. Die Einsiedlerin war froh, dass ihr neuer Nachbar ein
alter Bekannter war.
    Jerofej richtete sich ein. Unter den Habseligkeiten, die er
mitgebracht hatte, war ein Bienenschwarm. Einen ganzen Sommer lang tranken
Agafja und Jerofej ihren Kräutertee mit Honig. Im Winter gingen die Bienen ein.
    Die Bienen hatten sechs Beine, Jerofej nur eins. Die Bienen starben,
Jerofej überlebte. Auch den nächsten Winter in der Taiga überstand er, und den
übernächsten, und heute, fünfzehn Jahre später, war er immer noch am Leben.
Sein Bein hatte sich nie wieder entzündet.
    Einmal im Jahr besuchte ihn sein Sohn. Er brachte Lebensmittel mit,
Konservenfleisch, Büchsenmilch, Dosengemüse. Meist blieb der Sohn ein paar
Wochen, um die Hütte auszubessern und Brennholz für den Winter zu hacken. Das Holz
reichte für zwei, und Agafja war froh, dass sie es nicht mehr selbst hacken
musste. Im Gegenzug schenkte sie Jerofej jeden Monat zwei Säcke Kartoffeln.
    Ich begriff erst am dritten oder vierten Tag, dass Jerofej und
Agafja außer Brennholz und Kartoffeln nicht mehr viel miteinander verband. Wenn
sich die beiden am Flussufer begegneten, grüßten sie sich, aber ich sah sie nie
miteinander reden. Bevor ich Jerofej danach fragen konnte, sprach er es selbst
an. Es gab Glaubenskonflikte zwischen den beiden. Jerofej hatte es nie über
sich gebracht, Agafjas rigide Regeln zu befolgen. Er glaubte an Gott, er hatte
sogar altgläubige Familienwurzeln, aber er begriff nicht, was Gott gegen
Konservenbüchsen hatte, warum Strichcodes des Teufels waren, weshalb man den Ofen
nur mit einem Kienspan anzünden durfte, nicht mit einem Feuerzeug.
    Sie hatten sich auseinandergelebt. Im Umkreis von zweihundert
Kilometern gab es keinen Menschen außer Jerofej und Agafja, aber sie lebten
nebeneinander her wie Nachbarn einer Reihenhaussiedlung. Keiner von beiden
wirkte unglücklich mit diesem Zustand. Jerofej war in die Taiga gegangen, weil
er die Einsamkeit suchte. Agafja war in der Taiga geblieben, weil sie keine
Gesellschaft brauchte.
     
    Meine Tage am Jerinat kommen mir im Rückblick vor wie
Wochen. Die Zeit verging langsam, sie schien anderen Gesetzen zu gehorchen als
außerhalb der Taiga. Wenn ich
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