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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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weit, eingeschlossen von dichter Taiga. In
südlicher Richtung führt ein schmaler Trampelpfad in den Wald, bis zu einem
kleinen Holzverschlag, den Agafja im Sommer benutzt, um Fische zu räuchern. Nur
nach Norden entfernt sie sich etwas weiter von ihrer Hütte, am Flussufer
entlang bis zur Fischreuse. Dahinter, noch ein Stück weiter nördlich, säumen
ein paar Weiden den Fluss. Jeden Morgen schneidet Agafja hier ein paar Zweige
ab, die sie an ihre Ziegen verfüttert. Weiter als bis zu den Weiden geht sie
selten. Alles in allem ist ihre Welt kaum einen Quadratkilometer groß.
    Fünf Tage lang hielt ich mich ständig in ihrer Nähe auf. Zusammen
leerten wir morgens die Fischreuse, schnitten Weidenzweige, fütterten die
Ziegen. Agafja nahm die Fische aus, ich schuppte sie. Wir rupften das Unkraut
aus dem abgeernteten Kartoffelacker, wir stapelten Brennholz, wir besserten das
Dach ihrer Hütte aus und flickten die Löcher in der Fischreuse. Nur zum Essen
und zum Beten zog sich Agafja zurück, ansonsten nahm sie meine Anwesenheit mit
einer Selbstverständlichkeit hin, die mich bis zum Ende erstaunte. Sie sprach
fast ununterbrochen. Ihr Singsang setzte morgens ein, wenn sie mit ihren
Frühstücksgeschenken in der Gästehütte auftauchte, und abends, wenn wir zu
zweit in ihrem Haus saßen, sprach sie bis weit in die Nacht hinein. Es klang,
als sei sie froh, einen Zuhörer zu haben.
    Verblüffend schnell hörte ich mich ein. Schon nach dem ersten
gemeinsam verbrachten Tag konnte ich ihren Erzählungen halbwegs folgen. Die
veralteten Wendungen, die ich erst nicht verstanden hatte, kehrten so
regelmäßig wieder, dass ich ihren Sinn bald erriet. Zwar verlor ich immer noch
regelmäßig den Faden, wenn Agafjas Erzählungen übergangslos vom Biografischen
ins Biblische sprangen, als gäbe es zwischen beiden Bereichen keine klar
gezogene Grenze. Aber nach und nach fügten sich die Fragmente ihrer
Lebensgeschichte, die ich zwischen Flussufer und Waldrand, Kartoffelacker und
Fischreuse zu hören bekam, zu einem Gesamtbild.
    Ihr Vater, Karp Ossipowitsch Lykow, war ein gutes Jahrzehnt vor der
Revolution zur Welt gekommen, als Kind einer sibirischen Altgläubigenfamilie.
Die Großeltern, die Agafja nie kennenlernte, lebten mit ihren neun Kindern in
einer winzigen Siedlung namens Tischi, gelegen am Ufer des Abakan, ungefähr
hundert Kilometer stromaufwärts von Abasa. Das Dorf bestand aus zehn oder zwölf
Häusern, bewohnt von kinderreichen Altgläubigenfamilien wie den Lykows, die in
Tischi in fast völliger Abgeschiedenheit von der Welt lebten.
    Der Bart des jungen Karp Lykow war noch nicht sehr lang, als eines
Tages ein revolutionäres Planungskommando in der Siedlung auftauchte. Die
Bolschewiken sahen sich genau um. Am Ende zeigten sie auf die Fischreusen der
Altgläubigen: Sehr gut, sagten sie, der Staat braucht Fische – ab sofort ist
eure Siedlung eine Fischerei-Genossenschaft.
    Die Altgläubigen hielten das für keine gute Idee. Über Nacht gaben
sie ihr Dorf auf. Ein Teil von ihnen flüchtete ins Altai-Gebirge, ein anderer
Teil, darunter der frisch verheiratete Karp Lykow, zog stromaufwärts den Abakan
entlang, tiefer in die Taiga hinein. An einem Nebenfluss namens Kair ließen
sich die Altgläubigen nieder. Sie hatten sich kaum neue Häuser gebaut, als erneut
Uniformierte auftauchten. Diesmal gaben sich die Bolschewiken keine Mühe mit
den sturköpfigen Einsiedlern. Statt von Genossenschaften zu reden, zeigten sie
kurzerhand auf die Fischernetze der Altgläubigen: Her damit! Der Staat braucht
Netze!
    Die Altgläubigen wollten ihre Netze nicht hergeben. Ein Schuss fiel.
Karp Lykows Bruder brach zusammen, die Kugel hatte ihn in den Bauch getroffen.
Er verblutete, während die Bolschewiken die verstaatlichten Fischernetze
einpackten. Bevor sie verschwanden, riefen sie den Altgläubigen zu: Eure Kinder
gehören dem Staat! Gebt sie in die Schule, sonst kommen wir, um sie zu holen!
    Danach trennten sich die Altgläubigen ein zweites Mal. Die jüngeren
Familien flüchteten ins Altai-Gebirge, ein paar alte Leute, darunter Karp
Lykows Eltern, blieben am Kair. Karp Lykow selbst, der zwei kleine Kinder
hatte, tat weder das eine noch das andere. Er wusste von der »gottlosen
Wissenschaft«, die in den Schulen der Bolschewiken gelehrt wurde. Er kannte die
Altgläubigensiedlungen des Altai-Gebirges, und er glaubte nicht, dass seine
Kinder dort sicherer sein würden. Also zog er in die entgegengesetzte Richtung:
stromaufwärts den Abakan
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