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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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die Eismeerküste. Der Weg nach Belowodje sollte quer
durch die Wellen führen, aber nur an bestimmten Tagen. Boote und Pferde wurden
benötigt, in dieser Reihenfolge. Am Ende waren die Altgläubigen sehr nass und
halb erfroren, ohne dem Paradies einen Schritt näher gekommen zu sein.
    Ihr zweiter Versuch führte sie weit nach Süden, bis an die
chinesische Grenze. Lange irrten sie durchs Altai-Gebirge, auf der Suche nach
einem Bischof, der sie nach Belowodje führen sollte, aber nur bei Vollmond.
Leider tauchte der Bischof nicht auf. Vielleicht war es das falsche Gebirge.
Oder die verkehrte Mondphase.
    Enttäuscht kehrten die Altgläubigen um. Ein paar hundert Kilometer
nördlich der chinesischen Grenze entdeckten sie einen Fluss, der ihren
Vorstellungen von einem abgelegenen Paradies so nahe kam, wie es auf Erden eben
möglich ist. Der Fluss hieß Abakan.
    »Das war unter Zar Alexander«, sagte Agafja. »Vor Zar Nikolaj.«
    Sie sprach weiter, über die Verfolgungen, die ihre Vorfahren im 19.
Jahrhundert von einem Nebenfluss des Abakan zum nächsten getrieben hatten,
immer tiefer hinein in die Taiga. Ich hörte zu, aber mir ging das Paradies nicht
aus dem Kopf.
    »Agafja«, fragte ich. »Sind Sie sicher, dass der Weg nach Belowodje
heute verschlossen ist?«
    »Vater hat es gesagt. Und meine Cousinen auch, in Kilinsk. Nach
Belowodje ist schon sehr lange niemand mehr gegangen. Niemand kennt den Weg,
und wer ihn kennt, würde ihn nicht mehr finden, denn dort ist jetzt alles
voller Nebel. Das haben sie in Kilinsk gesagt. Man kommt nicht mehr dorthin.
Nicht einmal mit dem Hubschrauber.«
     
    Abends, als ich mit Ljonja und Alexej in der Hütte saß,
erzählte ich von meinem Gespräch mit Agafja. Als Alexej das Wort »Belowodje«
hörte, fing er sofort Feuer.
    »Es gibt die alte Wegbeschreibung noch. Agafja verwahrt sie in ihrer
Hütte, sie zeigt sie bloß niemandem. Ihr Vater hat mir davon erzählt, der alte
Lykow. Er hat gesagt, dass sich der Weg nach Belowodje nur alle zwei Jahre
öffnet. Wenn die Zeit gekommen ist, erscheinen auf den Gipfeln zweier Berge
zwei Lichter. Zwischen den Bergen muss man durchlaufen, dahinter liegt ein
weißer Fluss, aber das ist noch nicht Belowodje …«
    Ich sah Ljonja grinsen. Er hielt nicht viel von Alexejs Geschichten.
    »… man muss weiterlaufen, bis man einen See erreicht, dort wartet
ein Bischof in einem weißen Gewand …«
    Alexej liebte Geschichten. Am Lagerfeuer erzählte er mir gerne von
geheimnisvollen Funden, auf die er bei seinen Taiga-Wanderungen gestoßen war:
ein Waffenlager aus dem Bürgerkrieg, versteckt in einer Höhle; die Dachschindel
eines Hauses, obwohl im weiten Umkreis kein Haus stand; das Skelett eines
rätselhaften Tiers, zu groß für einen Wolf, zu schmal für einen Bären.
    Er war ein weicher, warmer Mensch, mit fast kindlichen Augen, die
überall Wunder entdeckten. Ich mochte ihn sehr, und ich begriff nicht, warum er
kein Glück mit den Frauen hatte. Die letzten beiden hatten ihn verlassen, die
Kinder hatten sie mitgenommen. Seitdem mied Alexej die Menschen. Nur noch
selten verließ er die Taiga, er lebte von der Jagd. Im Winter jagte er Zobel,
im Sommer Marale. Geschichten jagte er ganzjährig.
    Am Tag vor unserer Abreise erzählte mir Alexej die Geschichte von
den Höhlenmenschen.
    »Eines Tages wollte der alte Lykow seinen ältesten Sohn verheiraten …«
    Ljonja stöhnte. »Fängst du wieder damit an?«
    Es war früh am Nachmittag, wir waren zu dritt in der Hütte. Alexej
und ich saßen am Tisch und tranken Tee, Ljonja lag dösend auf der Ofenbank.
    »Um eine Braut zu finden, ging der alte Lykow mit seinem Sohn zu den
Höhlenmenschen.«
    Die Höhlenmenschen waren Altgläubige wie die Lykows, bloß
versteckten sie sich nicht unter Bäumen, sondern in Höhlen. Als der alte Lykow
mit seinem Sohn bei ihnen auftauchte, fand sich schnell eine willige Braut.
Leider konnten sich die Familien nicht einigen, wo das junge Paar leben sollte.
Die Höhlenmenschen wollten ihre Braut nicht in die Wälder geben, der alte Lykow
wollte seinen Sohn nicht in die Höhlen schicken. Unter der Erde, sagte er,
leben nur Teufel. Unverrichteter Dinge zogen Vater und Sohn wieder ab.
    »Märchen«, knurrte Ljonja.
    »Ich habe die Höhlenmenschen selbst gesehen«, sagte Alexej. »Der
alte Lykow hat mich zu ihnen geschickt, kurz bevor er gestorben ist.«
    Der alte Lykow hatte Alexej ein Paket in die Hand gedrückt und ihm
ein paar lange Gebete beigebracht. Du musst beten, hatte er
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