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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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worden war. Jean hatte gehört, dass seine gesamten Aufzeichnungen in den Flammen verloren gegangen seien.
    Vielleicht waren nicht alle verbrannt. Doch selbst wenn – wer konnte sie gefunden haben, und warum sollte diese Person nach all den Jahren mit mir Kontakt aufnehmen?, fragte sie sich verzweifelt.
    Lily – das war der Name, den sie dem Baby gegeben hatte, das sie neun Monate lang ausgetragen und dann nur vier Stunden gesehen hatte. Drei Wochen bevor Reed seinen Abschluss in West Point und sie den ihren in Stonecroft machen sollten, hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war. Sie hatten beide einen Schreck bekommen, aber dann beschlossen, gleich nach dem Abschluss zu heiraten.
    »Meine Eltern werden dich bestimmt mögen, Jeannie«, hatte Reed sie aufgemuntert. Aber ihr war klar, dass er sich Sorgen um ihre Reaktion machte. Er hatte zugegeben, dass sein Vater ihn davor gewarnt hatte, eine ernsthafte Bindung einzugehen, bevor er nicht mindestens fünfundzwanzig Jahre alt sei. Er kam nicht mehr dazu, es seinen Eltern zu sagen. Eine Woche vor seinem Schulabschluss wurde er auf einer schmalen Straße auf dem Campus von West Point von einem
Auto überfahren, dessen Fahrer anschließend Fahrerflucht beging. Anstatt mitzuerleben, wie ihr Sohn als Fünftbester seiner Klasse graduiert wurde, nahmen General Carroll Reed Thornton und seine Frau in einer eigens angesetzten Zeremonie auf der Abschlussfeier das Diplom und den Säbel ihres verstorbenen Sohnes entgegen.
    Sie erfuhren nie, dass sie eine Enkelin hatten.
    Selbst wenn jemand die Aufzeichnungen über die Adoption aus den Flammen gerettet hätte, wie sollte er dann nahe genug an Lily herangekommen sein, um ihre Haarbürste an sich zu nehmen, an deren Borsten noch einige ihrer langen goldenen Haarsträhnen hafteten?, fragte sich Jean.
    Bei der ersten Kontaktaufnahme des Unbekannten war ihr die Bürste zugeschickt worden, zusammen mit einer Notiz folgenden Inhalts: »Lass eine DNA-Analyse durchführen. Sie sind von deinem Kind.« Verwirrt hatte Jean einzelne Haare von der Locke, die sie von ihrem Baby behalten hatte, zusammen mit einer eigenen DNA-Probe und den Haaren von der Bürste einem privaten Labor zur Untersuchung übergeben. Das Ergebnis hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt – die Haare an der Bürste stammten zweifelsfrei von ihrer mittlerweile neunzehneinhalbjährigen Tochter.
    Oder ist es denkbar, dass das wunderbare, hingebungsvolle Ehepaar, das sie adoptiert hat, meine Identität kennt und das Ganze nur ein Vorgeplänkel ist, um Geld von mir zu fordern?
    Sie war in der Öffentlichkeit ziemlich bekannt geworden, nachdem ihr Buch über Abigail Adams zu einem Bestseller avanciert und anschließend erfolgreich verfilmt worden war.
    Hoffentlich geht es nur um Geld, dachte Jean, während sie sich erhob, um ihre Sachen auszupacken.

6
    CARTER STEWART WARF SEINEN Kleidersack auf das Bett. Neben Unterwäsche und Socken enthielt er mehrere Sakkos von Armani, dazu einige Hosen. Doch aus einer Laune heraus beschloss er, auf der ersten Abendgesellschaft einfach Jeans und Pullover, die er bereits trug, anzubehalten.
    Auf der Schule war er ein schmuddeliges, unordentliches Kind gewesen, Sohn einer schmuddeligen, unordentlichen Mutter. Wenn sie sich gelegentlich dazu aufraffte, Kleider in die Waschmaschine zu stopfen, war meistens gerade kein Waschmittel mehr da. Dann schüttete sie womöglich Bleichmittel hinein und ruinierte damit die gesamte Wäscheladung. Bevor er begonnen hatte, seine Kleidung vor ihr zu verstecken, um sie selbst zu waschen, war er auf der Schule durch ein leicht verschmutztes oder auch verwegenes Äußeres aufgefallen.
    Wenn er bei seinem ersten Wiedertreffen mit den ehemaligen Klassengenossen zu geschniegelt wirkte, könnte das Bemerkungen über sein damaliges Aussehen hervorlocken. Was würden sie sehen, wenn sie ihn heute betrachteten? Nicht den mageren Knirps, der er die meiste Zeit über an der Highschool gewesen war, sondern einen Mann von mittlerer Größe und straffem Körperbau. Im Gegensatz zu manch anderem, den er in der Hotelhalle gesehen hatte, wies sein volles, akkurat geschnittenes dunkelbraunes Haar noch
keinerlei graue Strähnen auf. Das Foto auf seinem Erkennungsschild zeigte ihn mit strubbeligen Haaren, die Augen zu Schlitzen verengt. Ein Kritiker hatte kürzlich über seine dunkelbraunen Augen geschrieben, dass aus ihnen »urplötzlich gelbe Blitze zu sprühen scheinen, wenn er in Zorn gerät«.
    Mit
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