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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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Kind, das auf dieselbe Art abgelehnt und gequält worden wäre, hätte sich vielleicht eine Waffe besorgt und sie auf seine Klassengenossen gerichtet. Gefühle der Wut, Verletztheit und Demütigung stauten sich an und bahnten sich einen Ausweg durch ein Ventil. Manche Menschen versuchten, sich selbst zu zerstören, wenn das geschah; andere versuchten, diejenigen zu zerstören, die sie quälten.
    Als Psychotherapeut, der sich auf Probleme von Jugendlichen spezialisiert hatte, trat Mark in einer eigenen Ratgeber-Sendung im Fernsehen auf, die seit einiger Zeit sogar von mehreren Sendern gleichzeitig ausgestrahlt wurde. Das Echo war überraschend positiv gewesen. »Groß, schlaksig, fröhlich, witzig und weise, nimmt sich Dr. Mark Fleischman dennoch mit dem gebotenen Ernst der Probleme dieses schmerzhaften Übergangsalters an, das man Adoleszenz nennt«, hatte ein Kritiker über die Sendung geschrieben.
    Vielleicht kann ich das alles nach diesem Wochenende endgültig hinter mir lassen, dachte er.
    Er hatte mittags nichts gegessen, deshalb ging er, nachdem er das Hotel endlich erreicht hatte, in die Bar und bestellte
sich ein Sandwich und ein leichtes Bier. Doch als sich die Bar plötzlich mit den ersten Gästen des Treffens zu füllen begann, verlangte er rasch die Rechnung, ließ die Hälfte des Sandwichs stehen und ging auf sein Zimmer.
    Es war Viertel vor fünf, und allmählich legten sich schwere Schatten auf die Landschaft. Er blieb eine Weile vor dem Fenster stehen. Das Bewusstsein dessen, was er zu tun hatte, lastete schwer auf ihm. Aber danach werde ich das alles abwerfen können, dachte er. Dann habe ich endlich reinen Tisch gemacht. Und dann erst werde ich wirklich fröhlich und witzig sein – vielleicht sogar weise.
    Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, und wandte sich abrupt vom Fenster ab.

    Gordon Amory trug sein Erkennungsschild in der Hosentasche, als er auf den Aufzug zuschritt. Er wollte es erst anstecken, wenn er unten in den Partyräumen war. Einstweilen bereitete es ihm Vergnügen, unerkannt im Aufzug neben den früheren Klassengenossen zu stehen, die sich Stockwerk für Stockwerk einfanden, und auf ihre Namen und Fotos zu schielen.
    Jenny Adams war die Letzte, die den Aufzug betrat. Sie war ein dummes, dickes Mädchen gewesen, und obwohl sie ein bisschen schlanker geworden war, wirkte sie immer noch matronenhaft. Das billige Brokatkostüm strahlte zusammen mit dem Kaufhaus-Modeschmuck etwas unverkennbar Kleinstädtisches und Spießiges aus. Sie wurde von einem kräftigen Kerl begleitet, dessen fleischige Arme wie eingeschweißt in den Ärmeln seines zu engen Sakkos steckten. Beide lächelten ausgiebig und begrüßten die im Aufzug Anwesenden mit einem allgemeinen »Hallo«.
    Gordon antwortete nicht. Das halbe Dutzend der Übrigen, die alle ihr Schild angesteckt hatten, brach in einen Chor von Begrüßungen aus. Trish Canon, die, wie Gordon in Erinnerung geblieben war, für die Schule an Laufwettbewerben
teilgenommen hatte und immer noch dünn wie eine Bohnenstange war, kreischte auf: »Jenny! Du siehst ja fabelhaft aus!«
    »Trish Canon!« Jennys Arme flogen um ihre ehemalige Mitschülerin. »Herb, Trish und ich haben uns in Mathe immer gegenseitig Zettel zugeschoben. Trish, das ist mein Mann Herb.«
    »Und das da ist mein Mann Barclay«, antwortete Trish. »Und …«
    Der Aufzug hielt im Zwischengeschoss. Während alle ausstiegen, kramte Gordon widerwillig sein Erkennungsschild aus der Tasche und steckte es sich an. Aufwändige plastische Gesichtsoperationen hatten dafür gesorgt, dass er nicht mehr so aussah wie der verdruckste Junge auf dem Schulfoto. Seine Nase war jetzt gerade, die ehemals von schweren Lidern verhängten Augen waren nun offen. Man hatte sein Kinn herausgearbeitet und die Ohren an den Kopf angelegt. Implantate und die Kunstfertigkeit eines Spitzenfachmanns für Haartönung hatten seine dünnen und blassbraunen Haare in eine dicke kastanienbraune Mähne verwandelt. Ihm war bewusst, dass er ein gut aussehender Mann geworden war. Nur ein äußerliches Anzeichen war von dem einstigen gequälten Kind übrig geblieben: Wenn er unter großem Stress stand, konnte er sich nicht davon abhalten, auf den Fingernägeln zu kauen.
    Den Gordie, den sie kannten, gibt es nicht mehr, sagte er sich, als er seine Schritte in Richtung Hudson-Valley-Suite lenkte. Er spürte, wie jemand an seine Schulter tippte, und drehte sich um.
    »Mr Amory.«
    Ein milchgesichtiger rothaariger Bursche stand
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