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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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verächtlichem Blick musterte er die Zimmereinrichtung. In seinem vorletzten Jahr in Stonecroft hatte er den Sommer über in diesem Hotel gearbeitet. Vermutlich war er auch öfter in diesem schäbigen Zimmer gewesen, hatte Tabletts hereingetragen für Geschäftsleute, für alte Schachteln, die sich auf Besichtigungstour im Hudson-Tal befanden, für Eltern, die ihre Kinder in West Point besuchten – aber auch für Pärchen, die sich von ihren angestammten Partnern und Familien fortgeschlichen hatten, um sich hier heimlich zu treffen. Die habe ich immer sofort durchschaut, dachte er. Bei solchen Gelegenheiten pflegte er immer mit einem breiten Grinsen »Auf Hochzeitsreise?« zu fragen, wenn er das Frühstück brachte. In die erschrockenen, schuldbewussten Gesichter zu blicken war jedes Mal ein Fest gewesen.
    Er hatte diesen Ort damals gehasst und hasste ihn heute immer noch, aber nachdem er nun einmal hier war, konnte er ebenso gut hinuntergehen und beim großen Ritual des Auf-die-Schulter-Klopfens und Freut-mich-dich-zu-sehen-Sagens mitmischen.
    Er prüfte nach, ob er das Stück Plastik, das ihm als Zimmerschlüssel überreicht worden war, eingesteckt hatte, schloss die Tür hinter sich und lief den Gang hinunter zum Aufzug.
    Die Hudson-Valley-Suite, in der die Cocktailparty stattfinden sollte, befand sich im Zwischengeschoss. Als er aus dem Aufzug trat, tönten ihm die elektronisch verstärkte Musik sowie die lauten Stimmen entgegen, die versuchten, sich darüber hinweg verständlich zu machen. An die vierzig oder fünfzig Leute schienen sich bereits versammelt zu haben. Zwei Kellner standen am Eingang, Tabletts mit gefüllten
Weingläsern präsentierend. Er nahm ein Glas Rotwein und nippte prüfend. Ein mieser Merlot. Nichts anderes hatte er erwartet.
    Er betrat die Suite und spürte, wie jemand ihm an die Schulter tippte. »Mr Stewart, mein Name ist Jake Perkins, ich schreibe einen Artikel über das Treffen für die Schülerzeitung Stonecroft Gazette . Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
    Mürrisch drehte sich Stewart um und musterte den nervös blickenden, übereifrigen rothaarigen Burschen, der sich direkt vor ihm aufgebaut hatte. Wenn man etwas von jemandem will, muss man als Erstes wissen, dass man dem andern nicht gleich so nah auf die Pelle rückt, dachte er irritiert, als er versuchte, zurückzuweichen, und dabei mit dem Rücken gegen die Wand stieß. »Ich schlage vor, dass wir hinausgehen und uns einen ruhigeren Ort suchen, es sei denn, Sie können von den Lippen ablesen, Jake.«
    »Ich glaube nicht, dass das eine meiner Stärken ist, Sir. Gehen wir nach draußen, das ist eine gute Idee.«
    Nach kurzem Überlegen beschloss Stewart, den Wein mitzunehmen. Mit einem Achselzucken folgte er dem Schüler zurück in den Gang.
    »Bevor wir anfangen, Mr Stewart, möchte ich Ihnen sagen, wie sehr mir Ihre Theaterstücke gefallen. Ich möchte selbst Schriftsteller werden. Das heißt, ich denke, dass ich bereits Schriftsteller bin, aber ich möchte auch Erfolg haben wie Sie.«
    O Gott, dachte Stewart. »Jeder, der mich interviewt, sagt dasselbe. Die meisten, wenn nicht alle, schaffen es nie.«
    Er wartete auf die verärgerte oder verlegene Reaktion, die diese Bemerkung normalerweise zur Folge hatte. Zu seiner Enttäuschung zeichnete sich stattdessen auf Jake Perkins’ Babygesicht ein fröhliches Lächeln ab. »Bei mir ist das anders«, sagte er, »da bin ich ganz sicher. Mr Stewart, ich habe eine ganze Menge über Sie und die anderen, die geehrt
werden, recherchiert. Sie alle haben eines gemeinsam. Die drei Frauen waren ziemlich erfolgreiche Schülerinnen, dagegen ist keiner der vier Männer damals in Stonecroft in irgendeiner Weise aufgefallen. Ich meine, in Ihrem Fall zum Beispiel konnte ich in den Jahrbüchern keine einzige Aktivität finden, und Ihre Noten waren auch nur mittelmäßig. Sie haben weder für die Schülerzeitung geschrieben noch …«
    Ganz schön frech, der Bengel, dachte Stewart. »Zu meiner Zeit war die Schülerzeitung ziemlich stümperhaft gemacht, selbst für eine Schülerzeitung«, erwiderte er giftig. »Und ich bin sicher, dass sich daran bis heute nicht viel geändert hat. Ich war nie besonders sportlich, und mein Schreiben beschränkte sich auf das Führen eines Tagebuchs.«
    »War dieses Tagebuch die Grundlage für eines Ihrer Stücke?«
    »Vielleicht.«
    »Sie sind alle ziemlich düster.«
    »Ich mache mir über das Leben keine Illusionen, und das war bereits so, als ich hier zur
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