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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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1
    ZUM DRITTEN MAL innerhalb eines Monats war er nach Los Angeles gekommen, um ihren Tagesablauf zu beobachten. »Ich weiß genau, wann du kommst und wann du gehst«, flüsterte er, während er im Badehaus wartete. Es war eine Minute vor sieben. Die Morgensonne drang durch die Baumkronen und ließ den kleinen Wasserfall, der sich in das Becken ergoss, funkeln und glitzern.
    Er fragte sich, ob Alison spürte, dass ihr nur noch eine Minute auf dieser Erde blieb. Hatte sie vielleicht eine vage Vorahnung, gab es eine unbewusste Stimme, die ihr einflüsterte, an diesem Morgen nicht schwimmen zu gehen? Aber selbst wenn dem so sein sollte, würde es ihr nichts mehr nützen. Es war zu spät.
    Die verglaste Schiebetür öffnete sich, und sie trat auf die Terrasse. Sie war jetzt achtunddreißig Jahre alt und ungleich attraktiver als vor zwanzig Jahren. Ihr Körper, sonnengebräunt und wohl geformt, kam in dem Bikini gut zur Geltung. Ihre Haare, jetzt honigblond, rahmten und milderten ihr etwas kantiges Kinn.
    Sie warf das Handtuch, das sie über dem Arm getragen hatte, auf einen der Liegestühle. Die unstillbare Wut, die in ihm gebrodelt hatte, schwoll zu ungebremstem Hass an, doch wurde sie gleich darauf ebenso rasch ersetzt durch das befriedigende Gefühl, genau zu wissen, was er in den nächsten
Augenblicken tun würde. Er hatte einmal ein Interview gesehen, in dem ein waghalsiger Kunsttaucher gesagt hatte, der Moment vor dem Absprung – mit dem Bewusstsein, sein Leben zu riskieren – sei ein unbeschreiblicher Nervenkitzel, dem er sich wie unter Zwang immer wieder aussetzen müsse.
    Bei mir ist es anders, dachte er. Es ist der Augenblick, bevor ich mich ihnen zeige, der mich in höchste Erregung versetzt. Ich weiß, dass sie sterben werden, und sobald sie mich sehen, wissen sie es ebenfalls. Sie begreifen, was ich ihnen antun werde.
    Alison betrat das Sprungbrett und streckte sich. Er sah zu, wie sie ein paar Mal wippte, wie um das Brett zu testen, und dann ihre Arme ausstreckte.
    Er öffnete die Tür des Badehauses genau in dem Moment, in dem sich ihre Füße vom Brett abstießen. Er wollte, dass sie ihn sah, während sie in der Luft schwebte. Noch bevor sie das Wasser berührte. Sie sollte begreifen, dass sie ihm ausgeliefert war.
    In diesem Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Er sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht, bevor sie in das Wasser eintauchte: blankes Entsetzen, weil sie wusste, dass es keine Möglichkeit gab zu entkommen.
    Noch bevor sie wieder an die Oberfläche gelangt war, hatte er sie erreicht. Er presste sie an seine Brust und musste lachen, als sie um sich schlug und mit den Beinen strampelte. Wie dämlich sie sich anstellte. Anstatt sich in das Unvermeidliche zu fügen. »Jetzt wirst du sterben«, flüsterte er mit ruhiger Stimme.
    Ihre Haare klebten in seinem Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Ungeduldig schüttelte er sie fort. Nichts sollte ihn von dem Vergnügen ablenken, ihren Kampf ums Überleben zu verfolgen.
    Es würde nicht mehr lange dauern. Nach Luft ringend, hatte sie den Mund geöffnet und Wasser geschluckt. Er spürte ihr letztes verzweifeltes Aufbäumen, den letzten Versuch,
von ihm loszukommen, dann die letzten schwachen Zuckungen, als ihr Körper zu erschlaffen begann. Er presste sie an sich, wie um herauszufinden, was in ihr vorging. Betete sie? Flehte sie Gott an, ihr Leben zu retten? Erblickte sie jenes ominöse Licht, von dem Menschen, die dem Tode nahe gewesen waren, immer wieder berichteten?
    Er wartete drei volle Minuten, bevor er sie losließ. Mit zufriedenem Lächeln sah er zu, wie ihr Körper auf den Boden des Beckens sank.
    Es war fünf nach sieben, als er aus dem Becken kletterte. Er zog ein Sweatshirt, Shorts, Laufschuhe und eine Mütze an und setzte eine dunkle Sonnenbrille auf. Er hatte bereits die Stelle ausgewählt, an der er das Erkennungszeichen für seinen Besuch hinterlassen würde, die Visitenkarte, die bisher alle übersehen hatten.
    Sechs Minuten nach sieben joggte er die ruhige Straße entlang, ein frühmorgendlicher Fitnessfanatiker in einer Stadt voller Fitnessfanatiker.

2
    SAM DEEGAN HATTE an diesem Nachmittag gar nicht die Absicht gehabt, die Akte von Karen Sommers zu öffnen. Er hatte in der untersten Schublade seines Schreibtischs gewühlt, auf der Suche nach einer Schachtel Erkältungstabletten, die er nach seiner Erinnerung dort deponiert hatte. Als der schon abgegriffene und merkwürdig vertraute Aktendeckel zum Vorschein kam, zögerte er kurz,
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