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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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die richtige Antwort parat gehabt. Schon damals war sie in Geschichte besonders gut gewesen. Was ihn am meisten überraschte, war, wie viel hübscher sie geworden war. Ihr glattes hellbraunes Haar schien dunkler und voller geworden zu sein und umrahmte ihr Gesicht glockenförmig. Sie war schlank, aber nicht mehr spindeldürr wie früher. Im Lauf der Zeit hatte sie auch gelernt, sich elegant anzuziehen. Ihre Jacke und ihre Hose waren gut geschnitten. Er beobachtete, wie sie ein Fax in ihre Schultertasche steckte, und wünschte, er könnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen.
    »Ich bin die Eule, und ich wohne in einem Baum.«
    In seinem Kopf hörte er Lauras Stimme, die ihn nachäffte. »Sie kann dich perfekt nachmachen«, hatte Alison an
jenem Abend gejauchzt. »Und sie hat uns auch erzählt, dass du dir in die Hosen gemacht hast.«
    Er konnte sich vorstellen, wie die Mädchen sich über ihn kranklachten; er hörte förmlich ihr schrilles Gekreisch und Gelächter.
    Es war vor langer Zeit passiert, in der zweiten Klasse, als er sieben Jahre alt gewesen war. Er hatte bei der Theateraufführung mitgemacht. Das war sein Satz gewesen, das Einzige, was er sagen musste. Aber er hatte ihn nicht herausgebracht. Er hatte so heftig zu stottern angefangen, dass alle Kinder auf der Bühne und sogar einige Eltern gekichert hatten.
    »Ich b-b-bin d-die Eu-Eule, und ich l-l-lebe in ei-ei-einem …«
    Das Wort »Baum« hatte er nicht mehr geschafft. Er hatte angefangen zu weinen und war von der Bühne gerannt, mit dem Zweig in der Hand. Sein Vater hatte ihn geohrfeigt und einen Schwächling genannt. Seine Mutter hatte gesagt: »Lass ihn. Er ist eben einfach zu blöd, was soll man da erwarten? Guck dir das an. Er hat sich wieder in die Hosen gemacht.«
    Die Erinnerung an diese Schande mischte sich mit dem Gelächter der Mädchen und wirbelte in seinem Kopf herum, während er beobachtete, wie Jean Sheridan den Aufzug betrat. Warum sollte ich dich verschonen?, dachte er. Vielleicht zuerst Laura, dann du. Dann könnt ihr mich auslachen, so viel ihr wollt, alle miteinander, in der Hölle.
    Er hörte, wie jemand ihn ansprach, und wandte den Kopf. Dick Gormley, der große Baseballstar seiner Klasse stand neben ihm an der Bar und starrte auf sein Erkennungsschild. »Freut mich, dich zu sehen«, sagte Dick aufgekratzt.
    Du lügst, dachte er. Und ich freu mich auch nicht, dich zu sehen.

4
    GERADE HATTE LAURA ihre Zimmertür aufgesperrt, da tauchte auch schon der Hoteldiener mit ihrem Gepäck auf: ein Kleidersack, zwei große Koffer, ein kleinerer und ein Necessaire. Was der Mann dachte, war nicht schwer zu erraten: Gute Frau, dieses Treffen dauert zwei Tage, nicht zwei Wochen .
    Stattdessen sagte er: »Miss Wilcox, meine Frau und ich haben uns jeden Dienstagabend Henderson County angesehen. Wir fanden Sie großartig in dieser Rolle. Gibt es eine Chance, dass die Serie irgendwann fortgesetzt wird?«
    Nicht den leisesten Hauch einer Chance, dachte Laura, aber dennoch tat ihr das offensichtlich ehrlich gemeinte Lob gut. »Henderson County nicht, aber ich habe gerade eine Pilotsendung für Maximum Channel gedreht«, sagte sie. »Ab Anfang nächsten Jahres soll die Serie gesendet werden.«
    Das war zwar richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Maximum hatte die Pilotsendung abgenommen und angekündigt, die neue Serie zu starten. Dann aber hatte Alison angerufen, zwei Tage vor ihrem Tod. »Laura, Schätzchen, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber es gibt da ein Problem. Maximum möchte jemand Jüngeren für die Rolle der Emmie engagieren.«
    »Jünger?«, hatte sie sich ereifert. »Hör mal, Alison, ich bin achtunddreißig, verdammt noch mal. Die Mutter in dieser
Serie hat eine zwölfjährige Tochter. Und schließlich seh ich gut aus, wie du weißt.«
    »Schrei mich nicht an«, hatte Alison zurückgekeift. »Ich tu schließlich alles, was ich kann, um sie zu überzeugen, es mit dir zu versuchen. Und was das Aussehen betrifft: In Zeiten von Laserchirurgie, Botox, Lifting und dem ganzen Kram sieht jeder in der Branche gut aus. Deshalb ist es ja so schwierig, jemanden für eine Rolle als Großmutter zu finden. Niemand sieht mehr so aus wie eine Oma.«
    Wir wollten gemeinsam zu dem Klassentreffen kommen, dachte Laura. Alison hatte erwähnt, dass sie die Liste der Teilnehmer, die zugesagt hätten, durchgegangen sei, und dass auch Gordon Amory kommen wolle, der ihres Wissens gerade erst bei Maximum eingestiegen sei. Sie meinte, er besitze genug
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