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Die Gesichtslosen

Die Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen
Autoren: Amma Darko
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KAPITEL 1
     
     
     
    An diesem Sonntag beschloß sie, die Nacht in dem alten Karton zu verbringen, der vor einem Lebensmittelstand auf dem Agbogbloshie Markt liegengeblieben war. Dies hatte übrigens nichts damit zu tun, daß der Sonntag jener Tag der Woche ist, an dem die Menschen gewöhnlich in die Kirche gehen. Vielmehr wollte Fofo nicht riskieren, ihren neuen Job, Karotten putzen auf dem Gemüsegroßmarkt, gleich wieder zu verlieren. Was zweifellos geschehen wäre, hätte sie die Nacht wie sonst immer mit ihren Freunden gegenüber in Sodom und Gomorrha verbracht, hätte sie Filme angesehen, von denen sie sich mit ihren 14 Jahren besser fernhalten sollte, und hätte sie «Akpeteshie» oder bestenfalls etwas milderen Selbstgebrannten Gin direkt aus der Flasche getrunken. Schließlich wäre sie spät am Morgen an der Seite eines ihrer Altersgenossen aufgewacht. Beide nackt, leicht benebelt und desorientiert, und beide hätten sich nicht mehr erinnert, wann genau in dieser Nacht sie sich ausgezogen und was genau sie mit ihrer Nacktheit angefangen hatten.
    Fofo war ein Kind der Straße.
    Ein Junge und ein Mädchen, beide etwa in Fofos Alter, wurden einmal von der Reporterin eines privaten Radiosenders auf der Straße gefragt, was sie sich am allermeisten wünschten, welches ihr größter Traum sei. Träume etwa wie in Martin Luther Kings berühmten Worten: I have a dream. Ich habe einen Traum.
    Die Reporterin erwartete zumindest, die Kids würden sich nach materiellen Dingen wie Schuhen und Kleidern oder, noch naheliegender, warmen Decken für die Nacht sehnen. Sie mußte sich eines Besseren belehren lassen.
    «Mein Traum ist», sagte der Junge, «daß ich eines Tages zu meiner Mutter nach Hause komme und die sich freut, wenn sie mich sieht. Ich möchte neben ihr einschlafen. Ich wünsche mir, daß sie mir sagt, daß sie glücklich ist, wenn ich sie besuche. Ich darf nie lange bleiben. Nie hat sie ein Lächeln für mich. Sie kann es kaum erwarten, mich wieder von hinten zu sehen. Manchmal denke ich, das liegt daran, daß der Mann, mit dem sie mich gemacht hat, auch nie ein Lächeln für sie gehabt hat. Eines Tages sagte sie zu mir: ‹Geh dahin, wo du hingehörst.› Wenn ich nicht dahin gehöre, wo sie ist, wo gehöre ich dann hin? Aber ich weiß, das ist nicht nur, weil sie mich nicht sehen will, es geht auch ums Essen. Sie hat nie genug davon. Sie macht sich Sorgen, es könnte nicht reichen für alle. Für die beiden Kinder, die sie mit ihrem neuen Mann hat, und für mich. Sie haßt mein Gesicht. Was an mir erinnert sie so stark an meinen Vater?»
    Das Mädchen erklärte: «Mich hat eine Frau von einer Betreuungsstation einmal sehr glücklich gemacht. Ich wußte sofort, daß sie mir etwas zu essen geben würde. Aber diese Frau gab mir noch mehr. Sie nahm mich in den Arm. Ich war dreckig. Ich roch schlecht. Aber sie nahm mich tatsächlich in den Arm. In dieser Nacht habe ich gut geschlafen. Und schön geträumt. Manchmal wünsche ich mir nur, in den Arm genommen zu werden, auch wenn ich nach der Straße stinke.»
    Es war gegen zwei Uhr, und Fofo, die nicht in den Arm genommen worden war, lächelte im Schlaf. Und der liebe Gott da oben und die Engel, die über sie wachten, sahen ihr Lächeln und erkannten: So sah das Lächeln eines zufriedenen vierzehnjährigen Mädchens aus, das jede Nacht auf diese Weise in den Schlaf gleiten könnte, wäre es nicht vom Schicksal dazu verurteilt, dieses Leben zu führen. Fofos Traum war fern jener Realität, in der sie lebte. Im Traum wohnte sie in einem Haus mit einem Dach über dem Kopf. Es fing plötzlich an zu regnen, und sie wollte sich gerade beeilen, einen sicheren und trockenen Platz zu suchen und sich an die anderen Kids zu kuscheln, als ihr einfiel, daß sie ja bereits ein Dach über dem Kopf hatte. Und in dem Haus mit Dach gab es eine Toilette. Eine Toilette mit Dach. Als sie das menschliche Bedürfnis verspürte, lächelte sie so breit, daß auch der Engel über ihr grinsen mußte. Im Traum ging sie einfach zur Toilette mit dem Dach darüber und erledigte ihr Geschäft. Ganz ohne Kampf, ganz anders als sonst. Die «Bullies», die älteren und gewitzteren Straßenjungen, entleerten ebenfalls regelmäßig den festen Inhalt ihrer Därme auf den Müllhalden, in den Gully oder in die offenen Rinnsteine. Dem ließen sie ein lautstarkes Bekenntnis zur Reinhaltung ihrer Umwelt folgen und bedrohten jene, die es ihnen zuvor gleichgetan hatten. Dann stopften sie sich das Geld,
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