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Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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Highschool-Jahrgangs – an Überzeugungskraft und Charme aufbieten mochte, sie hatte fest vorgehabt, ihre Teilnahme abzusagen. Arbeit, anderweitige Verpflichtungen, Krankheit – irgendetwas hatte sie vortäuschen wollen, um der Feier zu entgehen.
    Sie hatte nicht den geringsten Wunsch, ihren Abschluss an der Stonecroft Academy vor zwanzig Jahren zu feiern, auch wenn sie durchaus dankbar war für das Wissen, das sie dort erworben hatte. Nicht einmal aus der Medaille für »herausragende ehemalige Schülerinnen und Schüler«, die sie bekommen sollte, machte sie sich etwas, ungeachtet der Tatsache, dass ihr Stipendium für Stonecroft eine wichtige erste Etappe auf dem Weg zum Stipendium für Bryn Mawr und zu der sich daran anschließenden Promotion in Princeton gewesen war.

    Als aber eine Gedenkfeier für Alison in das Programm des Treffens eingefügt worden war, hatte sie unmöglich absagen können.
    Alisons Tod hatte immer noch etwas so Unwirkliches, dass es Jean beinahe vorkam, als könne jederzeit das Telefon klingeln und sie die vertraute Stimme hören, die oft in atemberaubendem Tempo abgehackte Sätze hervorsprudelte, als ob alles in zehn Sekunden gesagt werden müsse: »Jeannie! Von dir hört man überhaupt nichts mehr. Du hast mich wohl vergessen. Ich hasse dich. Nein, tu ich nicht. Ich liebe dich. Ich bewundere dich. Du bist so verdammt klug. Nächste Woche ist eine Premiere in New York. Curt Ballard ist einer meiner Kunden. Ein absolut fürchterlicher Schauspieler, sieht aber dermaßen gut aus, dass es niemanden stört. Seine neueste Freundin kommt auch. Wenn ich dir den Namen verrate, fällst du in Ohnmacht. Also, was ist, kannst du am nächsten Dienstag kommen, Cocktails um sechs, dann der Film, danach privates Dinner mit zwanzig oder dreißig oder fünfzig Leuten?«
    Alison hatte es immer geschafft, Botschaften dieser Art in nicht mehr als zehn Sekunden zu übermitteln, dachte Jean, und war jedes Mal schockiert gewesen, wenn Jean – in neunzig Prozent aller Fälle – nicht alles stehen und liegen lassen konnte, um nach New York zu eilen und sie zu treffen.
    Fast einen Monat war Alison jetzt schon tot. Und so schwer das auch zu begreifen war, die Tatsache, dass sie möglicherweise ermordet worden war, schien geradezu unerträglich. Natürlich hatte sie sich im Laufe ihrer Karriere Feinde gemacht. Niemand gelangt an die Spitze einer der größten Agenturen für junge Talente im ganzen Land, ohne gehasst zu werden. Außerdem waren Alisons messerscharfer Verstand und ihr beißender Sarkasmus schon mit den gefürchteten Bemerkungen der legendären Dorothy Parker verglichen worden. Könnte jemand sie aus bloßer Rachsucht umgebracht haben, jemand, den sie lächerlich gemacht oder gefeuert hatte?

    Mir wäre es lieber, wenn sie einen Schwächeanfall gehabt hätte, als sie in das Becken tauchte, dachte Jean. Der Gedanke, dass jemand sie unter Wasser gedrückt haben könnte, ist schwer zu ertragen.
    Ihr Blick fiel auf ihre Tasche auf dem Beifahrersitz, und sofort begannen ihre Gedanken um den Briefumschlag zu kreisen, der sich darin befand. Was soll ich tun? Wer hat diesen Brief geschickt und warum? Wie kann jemand etwas von Lily erfahren haben? Steckt sie in Schwierigkeiten? O Gott, was soll ich nur tun? Was kann ich überhaupt tun?
    Diese Fragen bereiteten ihr schon wochenlang schlaflose Nächte, seitdem sie den Laborbericht erhalten hatte.
    Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, an der die Straße nach Cornwall von der Route 9W abzweigt. Und in der Nähe von Cornwall befand sich West Point … Jean spürte, wie es ihr den Hals zusammenschnürte, und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf den herrlichen Oktobernachmittag zu lenken. Die Bäume leuchteten in den schönsten Herbstfarben, gold, orange und glühend rot. Darüber erhoben sich die Berge und strahlten wie immer eine majestätische Ruhe aus. Die Hudson River Highlands. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist, dachte sie.
    Doch unweigerlich brachte dieser Gedanke die Erinnerung an die Sonntagnachmittage in West Point zurück, als sie häufig bei solchen Stimmungen wie der heutigen auf den Treppen des Denkmals gesessen hatte. Dort hatte sie ihr erstes Buch angefangen, eine Geschichte von West Point.
    Zehn Jahre habe ich gebraucht, bis es abgeschlossen war, dachte sie, hauptsächlich deshalb, weil ich lange Zeit überhaupt nicht darüber schreiben konnte.
    Kadett Carroll Reed Thornton jr. aus Maryland. Jetzt nicht an Reed denken, ermahnte sich
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