Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein ist die Stunde der Nacht

Mein ist die Stunde der Nacht

Titel: Mein ist die Stunde der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
wieder eingefangen, dachte Sam. Wieso bin ich nach zwanzig Jahren nicht imstande, den Kerl zu überführen, der Karen Sommers auf dem Gewissen hat? Es war Lindstrom, da bin ich mir immer noch sicher.
    Lindstrom hatte es mittlerweile zum New Yorker Staranwalt gebracht. Dafür zu sorgen, dass so ein Schwein von
einem Mörder freikommt, darin ist er ein wahrer Meister, dachte Sam. Passt doch wunderbar – schließlich gehört er selber zu der Bande.
    Er zuckte die Achseln. Es war ein mieser Tag, regnerisch und ungewöhnlich kalt für Anfang Oktober. Früher habe ich diesen Job geliebt, dachte er, aber das hat sich geändert. Mittlerweile bin ich reif für die Rente. Ich bin achtundfünfzig. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich bei der Polizei gearbeitet. Warum in Gottes Namen sollte ich mich nicht auf die Pensionierung freuen? Ein paar Kilo abnehmen. Die Kinder besuchen und mehr Zeit für die Enkel haben. Bevor man’s richtig merkt, sind sie schon auf dem College.
    Er spürte leichte Anzeichen von aufkommenden Kopfschmerzen, als er mit der Hand durch seine ausgedünnten Haare fuhr. Kate hatte ihn immer wieder ermahnt, sich das abzugewöhnen, dachte er. Sie hatte behauptet, es schwäche die Haarwurzeln.
    Über die unwissenschaftliche Analyse seiner verstorbenen Frau, die damit wohl kaum die wahren Gründe für die fortschreitende Glatzenbildung benannt hatte, musste er unwillkürlich lächeln. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und starrte wieder auf die Akte mit der Überschrift »Karen Sommers«.
    Immer noch besuchte er regelmäßig Karens Mutter Alice, die inzwischen in einer Eigentumswohnung in der Stadt wohnte. Er wusste, dass es tröstend für sie war, das Gefühl zu haben, dass sie immer noch versuchten herauszufinden, wer ihre Tochter auf dem Gewissen hatte, aber es steckte noch mehr dahinter. Sam hatte das Gefühl, dass Alice irgendwann einmal etwas erwähnen könnte, das ihr bisher nicht wichtig erschienen war, etwas, das doch noch einen Hinweis auf denjenigen geben könnte, der in jener Nacht in Karens Zimmer eingedrungen war.
    Das ist es, was mich in den letzten Jahren angetrieben hat, mit der Arbeit weiterzumachen, dachte er. Ich wollte diesen
Fall unbedingt noch lösen. Aber jetzt kann ich es nicht mehr länger aufschieben.
    Er setzte sich, öffnete die unterste Schublade, hielt inne. Es hatte keinen Sinn mehr. Es war an der Zeit, diese Akte zu den übrigen Akten mit den ungelösten Fällen ins Archiv zu geben. Er hatte sein Bestes getan. In den ersten zwölf Jahren nach dem Mord war er jeweils am Jahrestag auf den Friedhof gegangen. Den ganzen Tag lang war er dort geblieben, hinter einem Mausoleum versteckt, und hatte Karens Grab beobachtet. Er hatte sogar ein Mikrofon am Grabstein installiert, um gegebenenfalls irgendetwas einzufangen, was ein Besucher sagen könnte. Es hatte schon Fälle gegeben, bei denen Mörder am Jahrestag des Verbrechens das Grab ihres Opfers aufgesucht und mit ihm über die Tat gesprochen hatten.
    Doch die einzigen Menschen, die je am Todestag vor Karens Grab erschienen waren, waren ihre Eltern gewesen, und er hatte tiefe Scham darüber empfunden, in ihre Privatsphäre eingedrungen zu sein, als er heimlich mitgehört hatte, was sie in Erinnerung an ihre einzige Tochter zueinander gesagt hatten. Vor acht Jahren hatte er es aufgegeben, hinzugehen, nachdem Michael Sommers gestorben war und nur noch Alice an dem Grab stand, in dem nunmehr ihr Mann und ihre Tochter lagen. An diesem Tag hatte er sich still entfernt, weil er nicht Zeuge ihrer Trauer sein wollte. Er war nie zurückgekehrt.
    Sam stand auf und klemmte sich Karen Sommers’ Akte unter den Arm. Sein Entschluss war gefallen. Er würde nie mehr hineinschauen. Und in der nächsten Woche, am zwanzigsten Jahrestag von Karens Tod, würde er sein Gesuch um Pensionierung einreichen.
    Und dann werde ich noch einmal auf den Friedhof gehen, dachte er. Nur um ihr mitzuteilen, dass es mir leid tut, aber dass ich einfach nicht mehr für sie tun konnte.

3
    SIE HATTE FAST sieben Stunden für die Fahrt von Washington durch Maryland, Delaware und New Jersey nach Cornwall-on-Hudson gebraucht. Eine Reise, auf die sich Jean Sheridan nicht besonders gefreut hatte – nicht so sehr wegen der weiten Strecke, sondern weil für sie Cornwall, die Stadt, in der sie aufgewachsen war, mit schmerzvollen Erinnerungen verbunden war.
    Was auch immer Jack Emerson – der Vorsitzende des Organisationskomitees für das zwanzigste Klassentreffen ihres
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher