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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod
Autoren: Gert Heidenreich
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etwas müde aussehen ließ. Vor der Terrasse lagen zwei Tennisplätze, auf denen niemand spielte, und hinter ihnen war es nicht mehr weit zu den Falaises, den Kreidefelsen. Dort schien die Luft kälter zu sein, und Swoboda fragte sich, ob es das Grün des Meeres war, das mit seinen Reflexen den weichen Sonnenton auskühlte und einen Wetterumschlag anzukündigen schien.
    Über dem Rand der Klippen sah er das fahle Licht, das er von Zungen an der Nelda kannte: eine Himmelsblässe, die sich in den Flüssen spiegelte und in den Gesichtern jede Falte hervorhob, jede Kerbe an den Häusern, jeden Riss im Asphalt, es schien sogar die Schatten im Innern der Menschen sichtbar zu machen. An einem solchen Tag hatten sie unter bleichem Himmel Iris Paintner auf dem Alten Friedhof hinter der Prannburg zu Grabe getragen. Ihre sterblichen Überreste waren vom Landeskriminalamt überführt worden. Der Leichnam von Nína Jökulsdóttir wurde am selben Tag nach Reykjavik geflogen, der von Saskia Runge nach Dresden gefahren.
    Der Engel aus glänzendem Basalt, der über dem Familiengrab der Paintners auf einem Steinsockel saß, ahmte in Haltung und Gesicht die Melencolia in Albrecht Dürers Kupferstich nach. Sein düsterer Blick traf eine Familie, die nicht verstehen konnte, warum innerhalb weniger Tage ihre Zukunft vernichtet worden war. Das Verhängnis hatte Martin und Susanna Paintner die Tochter geraubt, die Vergangenheit von Helmut und Gernot Paintner wieder auferstehen lassen und jede Aussicht auf ein Fortleben der familiären Tradition zerstört. Ein wahnhafter Mörder und eine Bluttat, die siebenundsechzig Jahre zurücklag, hatten sich auf eine unbegreifliche Weise verbündet. So standen sie als Opfer und Täter am Grab der jungen Frau, die an all dem keine Schuld traf.
    Außer Swoboda, Rüdiger Törring, Martina Matt und Wilfried Herking waren viele Bürger aus Zungen gekommen.
    Freya hatte sich erst an das offene Grab fahren lassen, als die Zeremonie beendet war und die Trauergäste zum Friedhofstor liefen. Aminata schob den Rollstuhl auf dem Kiesweg an ihnen vorüber, Freya blickte niemandem ins Gesicht.
    Swoboda und Martina hatten gewartet. Und als Freya den Strauß weißer Tulpen, den sie im Schoß liegen hatte, auf den Sarg hinunterwarf, hörte man, dass sie etwas sagte, aber niemand verstand die Wörter. Sie ließ sich zu Swoboda rollen, der mit Martina einige Schritte entfernt stand, sah zu ihm auf und sagte:
    Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich gern an Iris’ Stelle da unten gelegen. Aber jetzt habe ich einen Sohn wiedergefunden, eine Enkelin geschenkt bekommen, ein ganzes, neues Leben. Sie wissen noch nicht, dass Joseph und seine Frau kommen werden! Aminata hat mit ihnen gesprochen, ich habe es erst nicht gekonnt, nichts schlimmer als eine heulende alte Mutter am Telefon, nun sind die Flüge gebucht, stellen Sie sich das vor, Alexander, mein Sohn kommt! Sie müssen ihn kennenlernen!
    Er hatte nicht gewagt, ihr von seiner Reise zu erzählen. Später würde sie es verstehen, vielleicht, wenn er neue Kreidezeichnungen schicken würde, das Meer und die Falaises, die haushohen Rhododendronbäume im Parc des Moutiers, der Rosengarten von Madame Desens – die Motive lagen in seiner Phantasie bereit, und in keinem waren Albträume vorgesehen.
    Er war schon zwei Wochen hier, als Martina ihn anrief und ihm mitteilte, man habe die Gebeine von Yoro Mboge in Zungen beigesetzt, in einer neuen Grabstätte, die Freya Paintner für ihn und sich selbst erworben hatte. Dann fragte sie, ob er etwas brauche, was sie ihm nachsenden könnte.
    Nein, sagte er. Ich habe alles. Und wenn, du hast ja die Schlüssel zum Atelier. Vorerst zahle ich das bisschen Miete weiter.
    Kommst du wieder?
    Keine gute Frage im Moment. Gib auf dich acht.
    Du auch.
    Eine Viertelstunde später hatte Michaela Bossi aus ihrem BKA-Büro in Wiesbaden angerufen. Erst machte sie ihrem Ärger über Herking Luft, der einen ausführlichen Artikel über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht an schwarzen französischen Soldaten publiziert und damit eben die öffentliche Diskussion ausgelöst hatte, die im Verteidigungsministerium unerwünscht war.
    Dann fragte sie, ob es ihm gut gehe. In Wiesbaden sei das Klima bestimmt angenehmer als an der normannischen Küste.
    Ich brauche es nicht angenehm. Ich brauche es – anders.
    Wie anders?
    So wie hier, hatte er gesagt.
    Malst du?
    Nein, bisher zeichne ich.
    Ich kenne die Küste ja gar nicht, sagte sie unvermittelt, und er
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