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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod
Autoren: Gert Heidenreich
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Halbinsel beginnt.
    Dort vereinigen sich zwei Flüsse, die Mahr und die Mühr, zur rascher strömenden Nelda. Man hat es in Zungen seit jeher für ein gutes Zeichen gehalten, dass die beiden Flüsse die Stadt in den Winkel ihres Zusammentreffens aufgenommen haben, als trügen sie ihre langsam treibende Vergangenheit hierher, um sich vor der Nordspitze der Altstadt zu einem Fluss der Zukunft, eben jener schiffbaren Nelda, zu vermengen.
    Auf der Halbinsel hielten Gasthäuser sich leidlich am Leben, die Menschen in den kleinteiligen Bürgerwohnungen schienen langsamer zu leben als anderswo, und obwohl die Stadt mit ihren fünfzigtausend Einwohnern einige Anstrengungen unternommen hatte, Touristen anzulocken, machte Zungen den Eindruck, als webe hier eine geschlossene Gemeinschaft ihre Tage abseits der Welt und sei mehr von der Geschichte der Steine bestimmt als von dem Wunsch, an der Gegenwart teilzuhaben.
    Man konnte auch sagen: Zungen an der Nelda war eine nette, selbstgerechte und unumkehrbar überalterte Stadt, deren Bürger mehrheitlich an Phantasiearmut litten. Sie hatten geschlummert, als jenes Blutwunder in der Aegidiuskirche geschah, das dann am Morgen die unglückliche Verena Züllich zu ihrem Tanz auf dem Kranzplatz veranlasste.
    Bald nach der Verkündung des Herzblutens hatten sich vor dem Nebenaltar Schaulustige eingefunden, zwei Frauen knieten vor der Madonna, ein kleiner Junge legte, von der Mutter beauftragt, blühende Himmelsschlüssel an der heiligen Blutpfütze zwischen Marias Füßchen ab. Hinter dem Kind drängten sich mehr und mehr Neugierige und Gnadenbedürftige, streckten die Hälse, gierten nach einem Blick auf das Mysterium und fotografierten es mit ihren Mobiltelefonen. Einige machten auch Bilder von der fast zwei Meter langen Arche Noah, die von Kindern zum Weltnaturschutztag gebastelt und seitlich vom Altar vorerst stehen geblieben war, weil keiner wusste, wohin mit ihr und den darin versammelten Teddybären, Plüschhasen und anderen Kuscheltieren.
    Erst eine Stunde später kam ein Streifenpolizist vorbei und sah in der Kirche nach. Man war sich nicht sicher gewesen, wo die Grenze zwischen Stadtgrund und Kirchenbesitz verlief und ob die Ansammlung von Gläubigen nicht vielleicht doch eine unangemeldete Demonstration war.
    Jeder vernünftige Mensch hätte das Ereignis für einen ebenso widerwärtigen wie dummen Scherz angesehen und vielleicht angenommen, dass ihn sich die Studenten der Zungener Bildhauerakademie mit einem Schweineherz erlaubt hätten. Doch an jenem Morgen – mögen Frühlingsgefühle oder die Krisenstimmung des Jahres ursächlich gewesen sein – stillten hier zahlreiche Menschen ihr Bedürfnis nach einem Wunder. Dank der sozialen Dienste im Internet hatte sich die Aegidiuskirche rasch mit Anbetungswilligen gefüllt, bald sammelte sich auch auf dem Kranzplatz eine Menge an, in der man sich Fotos und Videoclips des blutigen Herzens – von den inneren Anbetern zu denen vor dem Gotteshaus gesandt – wechselseitig als Beweise vorwies.
    Die Bilder multiplizierten sich so lange, bis für jeden Betrachter die Wahrheit des göttlichen Phänomens feststand.
    Eine halbe Stunde nach Auftauchen des Polizisten wurden die bis in die hintersten Reihen gefüllte Kirche und der Kranzplatz gegen den heftigen Protest der Anbetenden geräumt und abgesperrt.
    Plötzlich war von Mord die Rede. Das Gerücht, in Zungen an der Nelda gebe es eine Maria vom Blutenden Herzen , war da aber schon unwiderruflich in alle Himmelsrichtungen getwittert worden und nahm seine globale Verbreitung auf. Man munkelte etwas von einer bevorstehenden Papstwallfahrt.

    Frank Züllich hatte seine Mutter nach Hause gebracht, ihr einen Beruhigungstee zubereitet und sie, als sie erschöpft auf der alten Couch in der Wohnküche eingeschlafen war, zugedeckt. Er hatte die Schränke nach Flaschen durchsucht, einen halben Liter Korn und vier kleine Kümmelschnäpse gefunden und ins Spülbecken geleert, das Haus durch den Hintereingang verlassen, den kleinen Hof überquert, der eine Gerümpelkammer unter freiem Himmel war, und den Schuppen betreten, den er sich in den vergangenen Jahren eingerichtet hatte: Sein eigenes Reich, das seine Mutter nicht betrat. Er ließ sie im Glauben, dass er dort an der Anlage einer elektrischen Eisenbahn weiterbaute, die sein Vater hinterlassen hatte.
    Hier verbrachte er seine Zeit mit Videogames, rauchte ab und an einen Joint und träumte seiner kurzen Vergangenheit nach, seinen abgebrochenen
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