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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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allmählich ermatten, sich zurückziehen. Die Welt, in der er zu leben gezwungen war, die Langeweile bei der Arbeit, die ihn nicht befriedigte, der Mangel an Freunden, der Verdacht, dass die Menschen rundherum seine Behinderung stärker wahrnahmen als er selbst, ließen ihn nach und nach in ein wüstes Land abdriften, wo niemand ihn erreichen konnte.
    Er verbrachte immer mehr Zeit allein. Mehrmals sah ich ihn nach der Arbeit mit schwermütigem Gesicht auf einer Bank im Passetto-Park sitzen, den weiß-schwarzen Stock zwischen den Beinen. Ich hatte nie den Mut, ihn anzusprechen, ihm zu sagen, dass ich da war.
    Einmal hatte er mir erzählt, als Kind sei es sein Traum gewesen, zur See zu fahren. Er wollte die Kadettenschule besuchen und Kapitän werden, denn nichts liebte er mehr als das Meer. Im Sommer stellte er sich einen Stuhl auf den Küchenbalkon und saß stundenlang da, um zuzuhören, wie die Schiffe im Hafen aus- und einliefen. »Das ist ein Tanker, nicht wahr?« Er bat mich, ihn zu beschreiben – welche Farbe, wie er hieß, auf welcher Höhe die Wasserlinie war, ob er also leer oder beladen war.
    Wenn dagegen die Fähre der Adriatica Navigazione ankam, fragte er mich nur nach der Uhrzeit. Hatte sie Verspätung? War sie pünktlich? Vielleicht war das Meer aufgewühlt gewesen. Die Adria kann furchtbare Stürme entfesseln, obwohl sie fast ein See ist. Oder vielleicht gerade deswegen, weil alle Kraft der Strömungen von den Ufern eingeengt wird. Auf dem Balkon lauschte er den Möwen mit ihren unterschiedlichen Schreien; und wenn sich zufällig eine Seeschwalbe zu ihnen gesellte, hob er sofort den Zeigefinger: »Hast du gehört, Matteo? Da ist jemand dazugekommen.«
    Er lebte nun praktisch ganz auf dem Meer und dem Festland, das sich gleich hinter dem Horizont verbarg, er dachte an sein Zuhause, an die Orte und seine Lieben, die ihm so grausam entrissen worden waren. Die kurze Öffnung zum Leben, die meine Geburt für ihn bedeutet hatte – es gab ein Menschenjunges, das großgezogen und unterrichtet werden musste, und dieses Junge war ein Teil seiner selbst –, war zu Ende.
    Ich ging inzwischen eigene Wege, wurde allmählich unabhängig, entwickelte meine eigenen Zeiten und meinen Rhythmus und wünschte, dass man das respektierte. Im ahnungslosen Überschwang meiner vierzehn Jahre bemerkte ich das Leiden meines Vaters nicht. Er bedrängte mich stundenlang mit Geschichten über das Leben auf dem Land, wie er während der Weinlese beim Traubenstampfen geholfen hatte und wie einzigartig die Kirschen waren, die in jener Gegend geerntet wurden – » marasche«, nannte er sie –, genau die Kirschen, aus denen der weltberühmte Maraschino hergestellt wurde. Er erzählte mir, wie er mit der Angelrute an der Seepromenade fischen gegangen war, und davon, dass für seinen Vater – den Arzt – die Arbeit eine Mission war und dass seine Schwester Gesang studierte und schon mit vierzehn Jahren eine engelsgleiche Stimme gehabt hatte.
    Sobald er wieder damit anfing, begann meine Mutter, den Tisch abzuräumen, und ich versuchte schüchtern einzuwenden: »Ich muss Hausaufgaben machen«, doch es nutzte alles nichts, er erwiderte sofort: »Dazu hast du noch den ganzen Nachmittag Zeit!« Stillschweigend zu verschwinden war undenkbar; sobald ich mich auf dem Stuhl einen Millimeter bewegte, sagte mein Vater: »Was machst du? Wohin gehst du?«
    Damals – ich ging in die vierte Klasse des Gymnasiums – spielte er mit dem Gedanken, sich einen Hund zuzulegen. Der Blindenverband hatte ihm ein bereits ausgebildetes Tier angeboten, eine Deutsche Schäferhündin. Er wusste auch schon den Namen: Laika. Eines Tages war er triumphierend mit zwei Näpfen in der Hand heimgekommen, einem für Wasser und einem für Futter.
    Meine Mutter blieb unbeugsam. »Einen Hund? Niemals. Du brauchst keinen Hund, außerdem ist die Wohnung viel zu klein, er brächte nur Dreck und Gestank herein. Und findest du das etwa schön? Mit einem Hund mit Blindenabzeichen auf der Straße herumzulaufen? Die Leute würden sagen: ›Wozu hat er eigentlich eine Frau?‹ Wenn du irgendwo hinwillst, fragst du mich, und ich bringe dich hin.«
    Mein Vater machte einen schwachen Versuch, Widerstand zu leisten, dann verzichtete er auf den Hund und verschloss sich in sein Schweigen.
    Aus wie viel Schmerz besteht unser Leben?
    Aus wie viel vermeidlichem Schmerz?
    Manchmal denke ich, dass wir im Augenblick des Todes nicht unser ganzes Leben vorbeiziehen sehen, wie es immer
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