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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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selben Krankenhaus geboren, sind wir nur wenige Bushaltestellen voneinander entfernt aufgewachsen, vielleicht haben wir sogar am selben Geländelauf teilgenommen, und dennoch waren wir uns bis achtzehn völlig fremd.
    Was wäre geschehen, wenn wir uns an jenem Tag nicht in jener Versammlung nebeneinandergesetzt hätten, wenn du nicht irgendwann geseufzt hättest: »Ist das langweilig!«, und ich dir nicht zugeflüstert hätte: »Finde ich auch«?
    Es war ein eisiger Tag, die Tramontana wehte, und aus unseren Mündern kamen Atemwölkchen. Wir gingen in eine Bar, und ich lud dich zu einem Cappuccino mit Croissant ein. Du sprachst hitzig und staunend. In allem, was du sagtest, lag Wärme. Ich hörte versunken zu, noch mehr vom Licht deiner Augen hingerissen als von deinen Worten.
    Hinterher brachte ich dich zum Bus, und beim Einsteigen, während die Türen sich schon schlossen, drehtest du dich um: »Ich heiße Nora.«
    »Matteo!«, rief ich hastig, doch ich fürchte, dass du nur die Bewegung meiner Lippen sehen konntest, wie bei einem Fisch.
    Was wäre passiert, wenn ich an jenem Tag nicht zu der Versammlung gegangen wäre, wenn du nicht gekommen wärst, wenn du dich woanders hingesetzt hättest? Hätte ich dich dann an einem anderen Ort getroffen, einen Monat später, ein Jahr später? Waren unsere Namen, unsere Schicksale sowieso schon durch einen unauflöslichen Knoten verbunden, oder waren wir austauschbar? Hättest du einen Giuseppe oder einen Luca getroffen und ich eine Giovanna oder eine Maria, die hinter der nächsten Ecke auf mich wartete? Wären wir glücklich, unglücklich, durchschnittlich unglücklich gewesen und hätten andere Wohnungen, andere Kinder, andere Schwiegereltern gehabt?
    Ich weiß es nicht.
    Ich weiß nur eines: Von dem Augenblick an, in dem du dort in der Bar losgelacht hast: »Jetzt sehe ich aus wie ein Schneemann«, weil du dir mit dem Atem den Puderzucker auf dem Croissant übers ganze Gesicht gestäubt hattest, hat sich tief in mir etwas verändert. Es war nicht das Herz, es war nicht der Verstand. Ein neuer Raum war in mir entstanden, den es davor nicht gab. In diesem Raum war eine Leere. Eine unruhige Leere, die nach einem Menschen dürstete.
    Und dieser Mensch warst du.
    Vielleicht unterscheidet sich das Gesetz der Liebe nicht sehr von dem der Meteorologie. So, wie die Luft stets dazu neigt, sich von einem Hochdruckgebiet in ein Tiefdruckgebiet zu bewegen, entsteht plötzlich in uns diese Leere. Und diese Leere erzeugt Wind. Einen leichten Wind, wenn der Druckunterschied gering ist. Einen Orkan, wenn der Sprung dagegen hoch ist.
    Als der Bus am Ende der Straße verschwand, begriff ich, dass nichts mehr sein würde wie vorher. Dein Name war in mir, hallte in dem leeren Raum wider, und dieser innerlich zwanghaft ausgesprochene Name unterschied sich kaum von den Lockrufen der Jäger. Noranoranora , wiederholte ich den ganzen Tag. Noranoranora war das Mantra, mit dem ich deine Gegenwart beschwören wollte.
    »Ist das Liebe?«, fragte ich mich, während ich durch die Straßen ging. Dieses sich plötzlich leicht und schwer zugleich fühlen? Wenn ich an deine Augen dachte, an deine Lippen, daran, wie ich sie küssen würde, fühlte ich mich leicht und euphorisch. Kam mir aber der Zweifel, dass ich es vielleicht nie tun würde, fühlte ich mich tonnenschwer.
    Wer sagte mir denn, dass du nicht längst vergeben warst?
    Du warst schön, attraktiv, leuchtetest förmlich. Verehrer mussten dich umschwärmen wie Bienen die Lavendelblüten.
    Und selbst falls du noch frei warst, wer garantierte mir schon, dass du mich wahrnehmen würdest, dass ich nicht für immer einer unter vielen bleiben würde? Ich hielt mich seit jeher für einen eher farblosen Typen. Ich hatte zwar meine Welt, meine Gedanken, aber in diesen Gedanken war keine Phantasie, nichts Außergewöhnliches, das dich hätte interessieren können. Ich tat mich in keinem Sport hervor, hegte keine politische Leidenschaft. Ich dachte in jenen Jahren weniger daran, Revolution zu machen, sondern meine Hauptsorge war, die Traurigkeit zu überleben, die meine Eltern in mir weckten. Ich wollte erwachsen werden, frei sein, tausend Meilen weit weg flüchten, weg von dieser Wohnung, die blitzte wie ein Schmuckkästchen, von den Mittag- und Abendessen, von den Sonntagen, die keinen Raum boten für meine Unruhe.
    Mein Vater begann sich zu verändern, als ich etwa zwölf Jahre alt war. Es war, als würde sein bis zu diesem Augenblick sonniges Gemüt
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