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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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ein starker, rechtschaffener Mann. Wäre er nicht durch die Blindheit eingeschränkt gewesen, hätte er buchstäblich die Welt aus den Angeln gehoben. Nicht er als Person, sondern seine Lage hatte mich dazu gedrängt, eine ausgeprägtere Sensibilität zu entwickeln – seine Lage und seine Vergangenheit. Der gewaltsame Tod seines Vaters und seiner Schwester, der Verlust aller Dinge und die Blindheit hatten vielleicht eine Spur in seiner DNA hinterlassen, und diese – eine Spur der Verwüstung – war auf mich übergegangen; denn nicht nur die Augenfarbe oder die Form der Nase werden von den Eltern an ein Kind weitergegeben, sondern wahrscheinlich auch der ganze Schmerz, der Wahnsinn und die Zerstörung, die die vorherigen Generationen erlebt haben. Was mich betrifft, so könnte ich sagen, dass ich grüne Augen und die große, gerade Nase meines Großvaters habe und dass in mir auch ein Gutteil der Gräuel des zwanzigsten Jahrhunderts schlummert.
    Doch abgesehen von dem genetischen Erbe hat wahrscheinlich auch das Zusammenleben mit ihm eine Rolle gespielt, zuhören zu lernen, Dinge zu riechen, Sachen, die die anderen Kinder nicht konnten. Wenn wir zu den Großeltern aufs Land fuhren, gingen wir im Wald spazieren, und er sagte: »Riechst du es, Matteo? Vor Kurzem ist ein Fuchs vorbeigekommen …«, oder »Vorsicht, nicht weit von hier gibt es Wildschweine, die Frischlinge haben …«
    Ja, wenn wir zusammen waren, glichen wir zwei Hunden, wir schnupperten, lauschten. Er war der Rudelführer und ich sein Welpe. Er lehrte, und ich lernte. So kam zu meiner Zerbrechlichkeit vermutlich auch dies – sich nicht vom Äußeren täuschen zu lassen. Sehen verführt durch seinen Anschein von Gewissheit. Du siehst etwas und bist überzeugt, das sei die alleinige Realität, du fragst dich nicht, gehst nicht weiter, weil du dich mit dem begnügst, was du siehst.
    »Wer sieht, sieht nichts«, wiederholte mein Vater oft.
    Als Kind dachte ich, das wäre nur ein Scherz, doch später habe ich verstanden, dass mein Vater es keineswegs lustig meinte. Er sah Dinge, die niemand sonst sehen konnte. Er schnupperte, lauschte, berührte. Wo andere getäuscht wurden, sah er die Wahrheit. Ihm gegenüber konnte man weder heucheln noch lügen. Es war nicht möglich, anders zu sein, als man war.
    Manchmal, wenn ich allein durch den Wald gehe – und der Wald ist der Herbstwald, wo die gekrümmten Finger der kahlen Zweige nach einem fassen –, fällt mir das Märchen vom Däumling wieder ein. Obwohl ich Märchen eigentlich hasste – mir graute vor Menschenfressern, Hexen und Wölfen –, las meine Mutter mir häufig welche vor, ich glaube, sie war überzeugt, das gehöre zu ihren Pflichten als Mutter. Erinnerst du dich an die Geschichte? Däumling wird weit weg von zu Hause von seinen Eltern ausgesetzt, doch er will wieder heim, deshalb streut er unterwegs heimlich weiße Kieselsteinchen. Und genau diese Kiesel führen ihn dann zurück nach Haus.
    Oft frage ich mich, während der Schnee unter den Sohlen meiner Stiefel knirscht, wo meine Steinchen sind. Wo ist die Spur, die mich aus der bescheidenen Wohnung in Ancona hierhergeführt hat, um allein im Gebirge zu leben? Es ist keine lineare Spur, und vielleicht ist sie nicht einmal immer sichtbar. Wenn ich ihr nachgehen wollte, um zurückzukehren, würde ich mich wahrscheinlich mehrmals verirren. Warum habe ich mich im Lauf meiner Tage so häufig verirrt? Ging ich vorwärts, oder drehte ich mich vielmehr im Kreis, verwickelte mich, rollte mich ein? Und wer bestimmte den Weg, auf dem ich die Kiesel fallen ließ? Bestimmte wirklich ich ihn, wovon ich ja bei meinem Aufbruch überzeugt war, oder spielte außer mir, über mir oder neben mir noch jemand mit?
    Hat der uns zusammengeführt?
    Oder das Schicksal?
    Ein Stück weit fielen unsere Kiesel regelmäßig nebeneinander. Ich machte einen Schritt, und du machtest einen in der gleichen Länge. Ich wartete auf dich, und du holtest mich ein, ich holte dich ein, und du wartetest auf mich. Wir waren überzeugt, dass wir für immer so weitermachen würden. Stattdessen gehe ich jetzt durch den Wald und hinterlasse eine einsame Spur. Niemand geht neben mir, niemand folgt mir oder läuft vor mir her. Eine Schere hat die Fäden durchschnitten, die uns einten.

6
    Wer weiß, ob es uns nicht seit dem Augenblick, in dem wir auf die Welt kamen, bestimmt war, einander zu begegnen. Mit wenigen Monaten Abstand – du im Hochsommer, ich mitten im Winter – im
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