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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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geschaut hatte, war mein Vater auf ihre erste Begegnung vor all den Jahren zurückgekommen.
    »So ist es! Kaum vernahm ich aus ihrem Mund, welcher Bus da kam – der Fünfzehner –, habe ich begriffen, dass sie ein Leckerbissen war, den ich mir nicht entgehen lassen durfte!«
    Meine Mutter war errötet, und um ihre Verlegenheit zu verbergen, hatte sie sich die Lippen mit der Serviette abgewischt.
    In den Jahren der Pubertät – wenn alles Abscheu weckt – habe ich mich oft meiner Eltern geschämt und ihnen ebenso viele unausgesprochene wie ausgesprochene Vorwürfe gemacht. Sie hat ihn aus Mitleid geheiratet, sagte ich mir, um eine warme Wohnung und Schüsseln aus Moplen zu haben, und er hat es nur getan, um ein Dienstmädchen zu bekommen, das er nicht bezahlen muss. Im Wahn dieses Alters war ich überzeugt, dass ich das Kind einer reinen Vernunftehe sei und dass die Umarmung, aus der ich entstand, nichts weiter gewesen sei als die triste Erfüllung eines Vertrags. Erst bei jenem Silvesterfest – einem ihrer letzten – wurde mir das Geschenk zuteil, die Beschränktheit meines Denkens zu erkennen. Ich war ein Kind der Liebe und hatte es bisher einfach nicht gemerkt.

5
    Im Winter ziehen sich die Tage hier in der Gegend hin, es kommt kaum jemand vorbei. Ich besitze ein kleines Radio, das mit Solarzellen funktioniert. Eine Frau, die voriges Jahr hier angehalten und mit mir geredet hat, hat es mir geschenkt. Ich empfand keinerlei Bedürfnis danach, doch ein Geschenk abzulehnen ist sehr taktlos, und so stand der kleine schwarze Kasten dann monatelang in meinem Küchenregal.
    In diesem Herbst, nach endlosen Regentagen, habe ich es schließlich eingeschaltet. Der erste Eindruck war der einer Verletzung: Zwei Moderatoren redeten aufgeregt über lauter Dummheiten. Beim ersten Musikbeitrag habe ich den Sender gewechselt, doch es hat mir nicht viel genutzt, daher habe ich das Radio nach ein paar weiteren Versuchen wieder abgestellt. Mir war, als hätte mich jemand bei den Schultern gepackt und heftig geschüttelt. Alle meine Gedanken, all meine Energie waren durcheinander.
    Ich musste eine ganze Weile atmen und dem vertrauenerweckenden Ticken der Uhr an der Wand lauschen, um mich zu beruhigen. Der Atem, das Knistern des Feuers, die Regelmäßigkeit der Zeit. Nach ein paar Minuten kam ich wieder zu mir.
    An den folgenden Tagen habe ich gelernt, es zu zähmen. Jetzt weiß ich, um wie viel Uhr ich es einschalten muss und auf welchem Sender, damit ich nicht von dieser erschütternden Aufregung überrollt werde, sondern höre, was in der Welt passiert. Nicht immer, nicht jeden Tag – nur, wenn mein Herz stark genug ist, den Schmerz aufzunehmen.
    Oft habe ich mich gefragt, ob die Einsamkeit die Sensibilität erhöht oder ob man die Einsamkeit wählt, weil man zu sensibel ist.
    Bisher habe ich keine Antwort gefunden.
    Als Kind weinte ich sehr rasch.
    Ich weinte nicht aus Unzufriedenheit, aus Trotz. Ich weinte, weil ich den Schmerz sah und mich nicht damit abfinden konnte.
    Ich weinte, wenn ich einen Bettler sah, eine krummbeinige Alte, die wackelig am Stock ging, Schluchzen schüttelte mich beim Anblick eines sterbenden, von Fliegen gequälten Kätzchens. Ich weinte, und dieses Weinen war etwas Verborgenes, ich schämte mich für diese übergroße Sensibilität. Ich blickte mich um und sah, dass sonst niemand weinte, und da empfand ich außer Scham auch eine ungeheure Einsamkeit. Die anderen schienen das, was ich sah, nicht zu bemerken, ihr Blick hielt bei der Form inne – der Arme, die Alte, die sterbende Katze. Die hinter diesen Wesen verborgene Frage schien sie nicht zu berühren.
    »Was willst du, Gina«, hatte ich einmal bei einem Besuch eine frühere Kollegin meiner Mutter sagen hören, »bei so einem Vater ist es normal, dass der Kleine nicht ist wie alle anderen, ich habe schon häufig Kinder gesehen, die so sind …«
    »So, wie?«
    »Verletzlich. Zerbrechlich, zu zerbrechlich.«
    Zerbrechlich!
    Bisher hatte ich dieses Wort nur mit den Kartons in Verbindung gebracht, die leicht zu Bruch gehende Gegenstände enthielten. Nie hatte ich mir vorgestellt, dass zwischen mir und dem Glas irgendeine Verbindung bestehen könnte, dass auch ich sein könnte wie ein Kronleuchter aus Muranoglas oder ein Kristallkelch – also etwas, das in tausend Stücke zerspringen konnte.
    War ich wirklich zerbrechlich?
    Ja.
    Kam diese Zerbrechlichkeit wirklich von meinem Vater?
    Darauf habe ich nie eine Antwort gefunden.
    Mein Vater war
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