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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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Familie nicht wie jede andere war, bemerkte ich erst mit sechs Jahren, als ich in die Schule kam. Bis dahin hatte ich geglaubt, dass alle Väter ihre Kinder andonnerten: »Hör zu!«, während die Mütter sich geschäftig der Hausarbeit widmeten. Die Väter hörten und die Mütter sahen. Auf dieses Gleichgewicht stützte sich die Welt.
    Mein Vater war nicht blind geboren worden, er erblindete mit vierzehn Jahren durch einen Bombensplitter. Dieselbe Bombe hatte seine geliebte Schwester getötet, und ihr zerfetzter Körper war das letzte Bild, das sich der Netzhaut des Jungen eingeprägt hatte.
    Seit Generationen lebte seine Familie in Zara, die Großmutter war Tochter kleiner Grundbesitzer, und der Großvater war Landarzt. Als die Bombenangriffe begannen, war sein Vater, mein Großvater, schon von den Partisanen getötet worden, deshalb war die Familie vom Land in die Stadt gezogen. Den rauchenden Trümmern entkommen, waren sie vom Roten Kreuz versorgt und dann nach Italien eingeschifft worden. Zu der Zeit gab es keine Psychologen, Psychopharmaka, Unterstützungseinrichtungen, die einem Menschen halfen; was dir widerfuhr, betraf nur dich selbst – es war dein Schicksal, und damit musstest du dich auseinandersetzen.
    »Heutzutage könntest du eine Transplantation machen lassen«, hatte ihm jemand vorgeschlagen, in den letzten Jahren seines Lebens. »Zwei neue Augen, um die Welt zu sehen …«, er aber hatte ärgerlich mit der Hand vor seinem Gesicht gewedelt, als wollte er eine Fliege verjagen.
    »Alles hat seinen Grund.«
    Dies war einer der Sätze, die er ständig wiederholte.
    Als ich größer wurde, versuchte ich zu verstehen, was in seinem Kopf, in seinem Herzen vorgegangen sein mochte – was es bedeutete, das Haus, die liebsten Angehörigen, die Welt, die man kannte, zu verlieren und in dem Wissen in Dunkelheit zu versinken, dass sie ein Gefängnis sein würde, aus dem es kein Entrinnen gab. War die Dunkelheit unmittelbar und total gewesen, fragte ich mich, ein Tintenschwamm, der brutal jeden Ort des Gedächtnisses auslöschte, oder waren für ihn die Farben, die Gesichter, die Landschaften weiterhin so gegenwärtig, als könne er sie noch sehen?
    Und ließen sie sich, falls sie noch da waren, bewahren, oder würden sie – wie vom Licht angegriffene alte Polaroidbilder – von der Finsternis zernagt, die um sie herumtanzte?
    Und was hieß es zu wissen, dass das Gesicht der eigenen Mutter, des eigenen Vaters, die Farben der windbewegten Kornfelder dabei waren, für immer zu verschwinden?
    Wo sie wiederfinden? Wie innehalten? Wie sich verankern?
    Das alles fragte ich mich oft, hatte aber nie den Mut, ihn selbst danach zu fragen. Ebenso, wie ich ihn nie über sein Leben davor befragt habe, als er ein Junge war wie alle anderen und nicht der, bei dessen Anblick die Leute flüsterten: »Der Ärmste.«
    Er und seine Mutter waren dann nach Ancona umgezogen, und dort war es ihm mit großer Ausdauer gelungen, das Gymnasium zu beenden. Er hätte danach gern Jura studiert, doch die finanzielle Situation hatte es ihm, zusammen mit seiner Behinderung, verwehrt, diesen Traum zu verwirklichen. So war er als Telefonist bei der Stadtverwaltung eingestellt worden und hatte nach einem Jahr an einer Bushaltestelle meine Mutter kennengelernt.
    »Welcher Bus kommt da?«
    »Der Fünfzehner!«, antwortete eine Stimme neben ihm.
    Meinem Vater gefiel diese Stimme sehr, deshalb reichte er ihr den Arm:
    »Wären Sie so freundlich, mich zu führen?«
    Linkisch und verlegen half meine Mutter ihm, in den Bus zu steigen. Beim Aussteigen bot sie ihm dann an, ihn nach Hause zu begleiten.
    Am folgenden Sonntag gingen sie in Numana spazieren. Vor dem offenen Meer breitete mein Vater die Arme aus. »Ah, jetzt rieche ich wirklich die Heimat!«
    Mit Heimat meinte er natürlich Zara und das Land auf der anderen Seite des Meeres. Im von der Maisonne warmen Sand sitzend, erzählte er ihr dann – zum ersten und einzigen Mal – von seiner Kindheit, und zwei Wochen später hielt er um ihre Hand an. »Ja«, lautete die Antwort meiner Mutter, nach kurzem Zögern.
    Mein Vater war ein gut aussehender Mann, groß, kräftig, mit ausgeprägten, regelmäßigen Gesichtszügen, während man von meiner Mutter alles sagen konnte, außer dass sie hübsch war – sie war ein klassisches Mauerblümchen. Sogar ihr Name, Gina, war banal, und ihr Gesicht war von Aknenarben verunstaltet.
    Einmal, auf einer Silvesterfeier, auf der er ein wenig zu tief ins Glas
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