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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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Schreckens ist, dass ein Raubtier kommen und dich aus der Wärme herausreißen kann, in der du herangewachsen bist. Das Raubtier sind die Hände der Krankenschwestern, dann das Gebadetwerden, die Plastikbettchen, das verzweifelte Weinen, auf das niemand antwortet. Wenn man die ersten Tage zerstört, zerstört man ein ganzes Leben, sagtest du immer wieder. Davon warst du zutiefst überzeugt. Die Kluft der Abwesenheit – das war es, was alle so außerordentlich zerbrechlich machte, unfähig, sich der Fülle der Liebe hinzugeben.
    Oft, wenn ich auf Station arbeitete, kamen mir deine Worte in den Sinn. In was hat sich der Tod verwandelt? In etwas, das man hinter einem Wandschirm verbirgt – wenn überhaupt einer aufgestellt wird –, in etwas Beschämendes, Heimliches, was meistens in völliger Einsamkeit geschieht, und danach bist du nur noch eine Nummer, ein Platz, der frei gemacht, ein Bett, das frisch bezogen werden muss in der Erwartung, dass ein anderer kommen und darin sterben wird. Hängt der Wahnsinn unserer Zeit nicht vielleicht auch damit zusammen? Neonlampen beleuchten unsere intimsten, geheimnisvollsten Augenblicke, und unter diesem Neonlicht triumphiert die eiskalte Effizienz der Technik.

8
    Einmal kam sogar eine Journalistin herauf. Ein Freund hatte ihr von dem Mann erzählt, der so zurückgezogen dort oben wohne und sie wollte einen Artikel darüber schreiben. Im Lauf der Jahre und der Stille habe ich es gelernt, Ja zu sagen; jede Tat, auch die geringste, kann ein kleines Geheimnis bergen, einen Samen, den du übersehen hast und der aufgehen kann, weil du ihn angenommen hast.
    Es war eine junge Frau, und sie wirkte recht selbstsicher. Wie alle selbstsicheren Menschen war sie überzeugt zu wissen, wer ich sei, und jede ihrer Fragen war nur ein Versuch, mir einen vorgefertigten Stempel aufzudrücken. Doch je weiter sie ging, desto unzufriedener wirkte sie. Sie stellte indiskrete Fragen, und ich antwortete, indem ich von meinem Leben hier oben erzählte, von der Stille, den Schafen, den Dingen, die ich entdeckt hatte. Ich habe ihr auch von meiner Katze erzählt, die eines Tages – zusammen mit ihren Jungen – ein Eichhörnchenjunges säugte und wie dieses in Kürze zu ihrem Lieblingskind wurde.
    »Ich glaube nicht an Idyllen«, hatte sie mich ungeduldig unterbrochen.
    »Und woran glauben Sie?«
    »An die Wahrheit.«
    »Und was ist denn die Wahrheit?«
    »Die Wahrheit ist, dass Sie etwas verbergen.«
    »Denken Sie, ich sei ein Mörder?«
    »Ich weiß nicht. Jedenfalls verschleiern Sie etwas. Sie haben irgendetwas Irritierendes an sich.«
    »Was stört Sie denn so?«
    »Dass Sie Gewissheiten zu haben scheinen, Sie sprechen vom ›Guten‹, vom ›Schönen‹, als ob es das gäbe …«
    »Wieso, fänden Sie es nicht schön, wenn Sie ein Kind hätten?«
    Einen Moment lang hielt sie unschlüssig inne. »Ja, wahrscheinlich schon. Aber es wäre schön für mich, also ganz individuell. Das Schöne als absoluten Begriff gibt es nicht.«
    »Weil das Absolute nicht existiert?«
    »Natürlich nicht.«
    »Und wer hat Ihnen gesagt, dass es nicht existiert?«
    »Die Wissenschaft hat für alles eine Erklärung. Und falls sie noch keine hat, wird sie sie bald finden.«
    »Wissen Sie, wann Sie sterben?«
    »Nein, aber was hat das hier zu suchen? Außer den zum Tode Verurteilten weiß das niemand.«
    »Eben.«
    »Die Anthropologie hat uns längst erklärt, dass es eine Notwendigkeit primitiver Völker ist, an Dinge zu glauben, die man nicht sieht. Schon seit den frühesten Kulturen des Menschen gibt es Zeugnisse dieser Formen von Aberglauben, und die Genetik und die Biochemie haben solche Intuitionen wissenschaftlich untermauert. Dinge, von denen Sie glauben, sie seien außerhalb von Ihnen, sind in Wirklichkeit in Ihnen: ein winziger Bereich des Gehirns, der dafür gemacht ist, starke Emotionen zu wecken. Alle Visionen von Heiligen könnten getrost im Labor erklärt und reproduziert werden.«
    Ich unterbrach sie: »Lebt Ihre Mutter noch?«
    Ratlosigkeit blitzte in ihrem Blick auf; sie folgte einem Weg, den sie tausendmal erforscht hatte, sie kannte jede Steigung, jede Kurve, jede Senkung; vor allem kannte sie das Ziel; noch nie hatte sie geargwöhnt, dass man davon abweichen könnte.
    »Nein. Sie ist vor drei Jahren gestorben.«
    »Haben Sie geweint?«
    »Selbstverständlich habe ich geweint, aber das ist doch normal. Alle weinen, wenn ihre Mutter stirbt.«
    »Und macht Sie das nicht nachdenklich?«
    »Inwiefern
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