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Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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können wir nicht«, sagte Burke.
    »Um Himmels willen, Burke, laß uns …«
    »Warte.« Sie hörte, wie er an etwas herumhantierte. »Ich glaube, hier ist eine Tür.«
    Es gab tatsächlich eine Tür. Als sie nach außen aufschwang, waren sie im ersten Moment vom Licht geblendet. Sie wichen beide vor dem Anblick zurück, dem sie sich gegenübersahen: ein Metallsteg, der in Richtung Altar führte. Mindestens dreißig Meter über dem Fußboden der Kathedrale.
     
    »Ich kann nicht«, sagte Mary Ann, ohne daß Burke sie zu etwas aufgefordert hätte.
    »Wenn ich kann, kannst du auch. Sieh mal, es gibt ein Geländer. Du kannst unmöglich runterfallen.«
    »Es geht doch nicht um ein …« Das Wort »Geländer« ließ sie verstummen. »Burke! Ein Steg mit einem Geländer! Das ist die Stelle, von der du geträumt hast!«
    »Ich sag’s noch mal«, entgegnete er düster. »Wenn ich kann, kannst du auch.«
    Er faßte sie an der Hand und führte sie auf den Steg. Mary Ann schaute auf die Uhr. Die Messe sollte in zwölf Minuten anfangen. Acht Stockwerke unter ihnen setzte sich die Kirchengemeinde aus roten, blauen und gelben Farbflecken zusammen. Die Höhe reduzierte sie auf die Primärfarben. Eine Fensterrose aus Menschen.
    Burke und Mary Ann gingen mindestens fünfzig Meter, bis sie direkt über dem Querschiff der Kathedrale standen. In Entsprechung zum Grundriß des Gebäudes kreuzte dort ein zweiter Steg denjenigen, auf dem sie sich befanden.
    Und genau dort stand eine Kühlbox aus Styropor.
    Mary Ann schaute nach hinten, dann auf dem anderen Steg nach links und rechts. Der Mann mit den Implantaten war nirgends zu sehen. Burke stand wie versteinert da und starrte auf die Kühlbox. Sein angekränkelt-graues Gesicht zwang Mary Ann, Stärke zu zeigen.
    »Burke, ist das der Kreuzungspunkt der Linien?«
    Er nickte.
    Sie griff nach der Kühlbox. »Soll ich sie aufmachen?«
    »Bitte«, sagte er matt.
    Sie hob den Deckel. Eine dicke weiße Rauchwolke wallte über die Ränder der Kühlbox. Nein. Kein Rauch. Trockeneis. Mary Ann kniete neben der Kühlbox nieder und blies auf die Oberfläche der Wolke. Sie teilte sich.
    Das, was Mary Ann zu Gesicht bekam, war von einem stumpfen Rot, fast schon mauvefarben. Ein schmaler Strich Haare zog sich über seine Oberfläche. An dem Ende, wo man es abgetrennt hatte, war es schwarz, und die Zehennägel hatten einen schauderhaften Gelbstich.
    Aber es war zweifellos ein menschlicher Fuß.
    Mary Ann ließ den Deckel fallen, stand schwankend auf und sank in Burkes Arme. Sie versuchte zu schreien. Statt dessen kam es ihr hoch, und sie machte sich gerade noch rechtzeitig von Burke los, um sich über das Geländer zu beugen.
    Die Menschen unten ahnten kaum, was sie da traf.

Die Sekte
    Als Mary Ann sich wieder aufrichtete, jagte Burkes verzerrtes Gesicht ihr neuen Schrecken ein.
    »Burke … O Gott, hast du ihn gesehen?«
    Er nickte mechanisch und starrte den Deckel der Kühlbox an.
    »Es war ein Fuß, Burke. Es war ein menschlicher Fuß. «
    Burke blinzelte, ohne etwas zu sagen oder die Augen von der Kühlbox zu lassen.
    »Wir müssen hier weg, Burke!«
    Er packte sie am Handgelenk. »Nein … Warte …«
    »Um Himmels willen, Burke! Wir müssen es jemand sagen. Wir können nicht einfach …«
    »Es war kein Fuß.«
    »Was?«
    »Es war kein Fuß.« Er riß die Augen auf, als würde ihm eine seltene göttliche Offenbarung zuteil. »Es war, es war … etwas anderes.«
    Mary Anns Stimme schlug ins Schrille um. »Ich hab es gesehen, Burke. Es kann gar nichts anderes sein.« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, aber seine Hand war wie ein Schraubstock. »Burke, was machst du da? Laß mich los, Burke! «
    Seine Hand gab nach. Am Haaransatz quollen ihm große Schweißtropfen wie Brandblasen aus der Haut. Er drehte sich um und sah sie an. »Es war kein Fuß«, sagte er mit kläglicher Stimme, »es war ein Arm.«
    »Burke, um Himmels …!«
    »Bestimmt, Mary Ann. Als ich zum erstenmal hier war … war es ein Arm.«
    »Du warst …? Burke, du erinnerst dich?«
    »Sie wollten, daß ich … Sie sagten, ich müßte …«
    »Wer, Burke?«
    »Sie. Er. «
    »Der Mann mit den Implantaten?«
    Burke nickte.
    »Was hat er von dir verlangt?«
    Schweigen.
    »Burke?«
    »Wir müssen hier weg.«
    »Warte, Burke. Was haben sie von dir verlangt?«
    Burke ging wieder den Steg entlang, drängte von der Kühlbox weg, zurück zur Wendeltreppe. Noch während er die Hand nach Mary Ann ausstreckte, wurde er schneller, bis
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