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Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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sie beinahe rannten.
    »Burke, was ist, wenn der Mann mit den …?«
    »Wie spät ist es?« Er zog ihr Handgelenk zu sich heran und schaute auf die Uhr. »O Gott! Wir haben nur noch drei Minuten!«
    »Wofür?«
    »Sie kommen in drei Minuten! Die Messe fängt in drei Minuten an!«
    Die beiden waren wieder an der Tür und tauchten erneut in die Dunkelheit ein. Burke ging auf der Treppe voran. Er klammerte sich die ganze Zeit an Mary Anns Hand. Als sie in den Raum mit den Gesangsbüchern kamen, stürzte er an den Knopf neben dem Fahrstuhl, sprang dann aber zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
    »Scheiße!«
    »Was ist los?« flüsterte Mary Ann.
    »Hör doch … Der Lift! Sie kommen hoch!«
    »O Gott.«
    Burke sah sich hektisch um, bevor er Mary Ann in die dunkelste Ecke des Raums zog, hinter einen hohen Stapel aus Gebetsbüchern. Sie duckten sich in dessen Schatten, als die Fahrstuhltür klappernd aufging.
    Fünf oder sechs Leute kamen heraus, und wenigstens zwei von ihnen waren Frauen. Sie klangen vergnügt und ganz alltäglich, bis der Mann mit den Implantaten die Zauberformel anstimmte, die Mary Ann inzwischen auswendig kannte.
     
    Hoch auf dem geheiligten Stein
    Leuchtet die inkarnierte Rose
    Über dem Berg der Flut
    Am Kreuzungspunkt der Linien.
     
    Vom metallischen Geschmack ihres Erbrochenen wurde Mary Ann erneut übel. Sie versuchte, an gänseblümchenübersäte Wiesen zu denken, an Regentropfen auf Rosen und an Schnurrbärte von kleinen Kätzchen, aber der Anblick des gräßlich dunkelroten Fußes schoß ihr immer wieder wie ein Blitzlicht durch den Kopf.
    Instinktiv griff Burke nach ihrer Hand und drückte sie beruhigend. Dabei streifte er den Stapel Gebetsbücher, was diesen bedrohlich ins Schwanken brachte. Mary Ann hielt den Atem an und tat ihr bestes, um den schwankenden Stapel am Einstürzen zu hindern.
    Sie warteten eine Ewigkeit.
    Schließlich machten sich die gesichtslosen Zelebranten daran, die Treppe zum Steg zu besteigen. Als ihre Tritte verklungen waren, hetzte Burke zum Fahrstuhl und drückte wie wild auf den Knopf.
    Die Tür öffnete sich augenblicklich.
    »Wo ist der Schlüssel?« fragte Burke.
    Mary Ann griff sich an den Hals. »Ich muß ihn …«
    »O Gott!«
    »Sieh auf dem Boden nach, Burke! Vielleicht ist er …«
    »Laß nur! Kann sein, daß wir ihn gar nicht brauchen!« Er drückte auf den Knopf für das Erdgeschoß. Der Fahrstuhl gab ein grausiges Seufzen von sich, und die Tür schloß sich rumpelnd. Ihre Fahrt nach unten begann.
    Als sie sich wieder im Hauptgeschoß der Kathedrale befanden, kündigte ein Donnergrollen der großen Orgel den Beginn der Messe an. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, flüchteten sie durch das riesige Portal ins Freie und rannten bis zum Huntington Park.
     
    Dort saßen sie dann eng aneinandergedrängt und nach Atem ringend auf einer Bank.
    »Du erinnerst dich wieder, nicht?«
    »Ja.«
    »An alles?«
    »An das meiste.«
    »Warum weinst du?«
    »Ich bin … erleichtert, das ist alles.«
    »Hast du diese Leute gekannt?«
    »Ja.«
    »Sollen wir gleich darüber reden?«
    »Ich denke schon. Das heißt, wenn es dir nichts ausmacht.«
    »Es macht mir nichts aus.«
    »Dieser Fuß, Mary Ann … Diese Leute.«
    »Hmh?«
    »Sie essen ihn. Sie sind jetzt dort oben und essen ihn.«

Im Alleingang
    Eine Woche später.
    Auf Jon gestützt machte Michael ein paar wackelige Schritte zum Badezimmer.
    »Ja wunderbar!« sagte Jon strahlend. »Du bist einfach toll!«
    »Ja, nicht?«
    »Ich glaube, du kriegst das auch alleine hin.«
    »O nein.«
    »Komm schon, Dumpfbacke. Versuch’s.«
    »Laß doch diese Kitschfilmtour! Ich bin noch nicht soweit!«
    »Ich laß jetzt los.«
    »Wenn du das machst, erzähl ich deinem Vater, daß du mit Jungs ins Bett gehst!«
    »Achtung, fertig …!«
    »Jon!«
    »Mit dem versteckten Betatschen hat es jetzt ein Ende. Du bist wieder auf dich selbst angewiesen.«
    Der Doktor schlüpfte unter Michaels Arm weg und ging ein paar Schritte zur Seite. Michael fuchtelte wild mit den Armen und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Seine Knie waren wie Pudding, aber er schaffte es, ruhig und aufrecht stehen zu bleiben.
    »Und jetzt geh«, sagte Jon ruhig.
    »Hoffentlich ist dir klar, wie kitschig das alles ist.«
    »Mach schon.«
    »Du hättest für dieses bewegende menschliche Drama auch einen passenderen Ort aussuchen können. Sicher fall ich gleich hin und knall gegen das Klo. Und dann sterbe ich am Ende mit einem Johnny Mop in
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