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Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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zurück. Sie flüchtete nicht nach Hause zu Mommy und Daddy. Soviel stand fest. Trotz aller Heimsuchungen war sie gern in San Francisco, und sie liebte ihre zusammengewürfelte Familie in Mrs. Madrigals gemütlichem alten Haus in der Barbary Lane.
    Was störte es da, daß sie immer noch Sekretärin war?
    Was störte es da, daß sie den Richtigen noch nicht getroffen hatte … oder wenigstens einen Passablen?
    Was störte es da, daß sich Norman Neal Williams, die einzige Beinaheliebschaft ihres ersten halben Jahrs in San Francisco, als Privatdetektiv entpuppt hatte, der nebenbei in Kinderpornos gemacht hatte und schließlich an Heiligabend von einer Klippe am Meer in den Tod gestürzt war?
    Und was störte es da, daß sie nie den Mut aufgebracht hatte, außer Mouse noch jemand anderem von Normans Tod zu erzählen?
    Wie Mouse es ausdrücken würde: »Im Vergleich zu Cleveland sieht selbst Scheiße noch aus wie Gold!« Ihr war klar, daß Mouse ihr bester Freund geworden war. Er und seine spaßige, aber herzallerliebste Mitbewohnerin Mona Ramsey waren im Lauf ihrer teils glorreichen, teils qualvollen Initiation in das wirkliche Leben von San Francisco stets ihre Mentoren gewesen und hatten ihr treu zur Seite gestanden.
    Sogar Brian Hawkins, ein sexbesessener Kellner, dessen Annäherungsversuche sie einst so gestört hatten, war in letzter Zeit dazu übergegangen, noch recht unbeholfene, aber doch gewinnende Freundschaftsangebote zu machen.
    Die windschiefe, efeuumrankte Hütte in der Barbary Lane 28 war jetzt Mary Anns Zuhause, und die einzige Elternfigur in ihrem Leben war Anna Madrigal, eine Vermieterin, deren schräger Charme und exzentrisches Wesen auf dem Russian Hill legendär waren.
    Mrs. Madrigal war ihrer aller wahre Mutter. Sie erteilte ihnen Ratschläge, schimpfte mit ihnen und hörte sich unerschütterlich die Berichte über ihre amourösen Niederlagen an. Wenn alles nicht half (aber auch sonst), belohnte sie ihre »Kinder« damit, daß sie ihnen Joints aus selbstgezogenem Gras an die Wohnungstür klebte.
    Mary Ann rauchte inzwischen Gras wie eine altgediente Kifferin. Kürzlich hatte sie allen Ernstes daran gedacht, sich in der Mittagspause bei Halcyon Communications einen anzustecken. So groß war die Pein, die sie unter dem neuen Regime Beauchamp Days zu ertragen hatte, des arroganten jungen Mannes aus bestem Hause, der durch den Tod seines Schwiegervaters Edgar Halcyon auf dem Chefsessel der Werbeagentur gelandet war.
    Mary Ann hatte Mr. Halcyon sehr gemocht.
    Und zwei Wochen nach seinem unzeitigen Ableben (am Heiligen Abend) hatte sie erfahren, wie sehr er sie gemocht hatte.
     
    »Rühr dich nicht von der Stelle«, ermahnte sie Michael voller Ausgelassenheit. »Ich habe nämlich auch eine Überraschung für dich!«
    Mary Ann verschwand im Schlafzimmer und tauchte Sekunden später mit einem Umschlag in der Hand wieder auf. In einer sehr akzentuierten Handschrift war ihr Name darauf zu lesen. Die Karte in dem Umschlag war ebenfalls mit der Hand geschrieben:
     
    Liebe Mary Ann,
    inzwischen haben Sie bestimmt eine kleine Aufheiterung nötig. Das beiliegende Geschenk ist für Sie und einen Freund oder eine Freundin. Fahren Sie irgendwo hin, wo nicht nur die Sonne lacht. Und lassen Sie sich von dem kleinen Mistkerl nicht unterkriegen.
    Stets der Ihre
    EH
     
    »Ich kapier überhaupt nichts«, sagte Michael. »Wer ist EH? Und was war drin in dem Umschlag?«
    Mary Ann platzte schon fast. »Fünftausend Dollar, Mouse! Von Mr. Halcyon, meinem alten Chef! Sein Anwalt hat mir den Umschlag letzten Monat gegeben.«
    »Und wer ist der ›kleine Mistkerl‹?«
    Mary Ann lächelte. »Das ist Beauchamp Day, mein neuer Chef. Mouse, ich hab zwei Tickets besorgt für eine Kreuzfahrt nach Mexiko. Auf der Pacific Princess. Hättest du Lust mitzukommen?«
    Michael sah sie entgeistert an. »Willst du mich verarschen?«
    »Nein.« Mary Ann kicherte.
    »Is ja ’n Ding!«
    »Kommst du mit?«
    »Ob ich mitkomme? Wann? Wie lange?«
    »In einer Woche. Elf Tage. Aber wir müßten gemeinsam in eine Kabine, Mouse.«
    Michael sprang auf und umarmte sie. »Dann verführen wir die Leute eben im Schichtbetrieb! «
    »Oder wir angeln uns einen netten Bisexuellen.«
    »Mary Ann! Ich bin schockiert!«
    »Oh, freut mich! «
    Michael hob sie hoch. »Wir werden braun werden wie die Kaffeebohnen. Und wir suchen dir einen Liebhaber …«
    »Dir aber auch.«
    Er ließ sie wieder runter. »Bitte nicht gleich zwei Wunder auf einen
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