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Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau
Autoren: Emily Carmichael
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PROLOG
Virginia City, Montana
Juli 1887
    Ein gutes, altmodisches Hängen war ein Spektakel, das den Bürgern von Virginia City, Montana, mindestens zwanzig Jahre vorenthalten geblieben war – seit den unruhigen 60er Jahren hatte es keine öffentliche Hinrichtung mehr gegeben. Deshalb versammelte sich eine stattliche Menschenmenge, um Gabriel William Danaher O’Connell von einem Ast baumeln zu sehen. Das Schauspiel versprach einen faden, heißen Sonntagnachmittag aufzumöbeln.
    Will O’Connell wäre ohne den Volksauflauf wohler gewesen. Die Hände auf den Rücken gebunden, mit der Hanfschlinge um den Hals, saß er auf dem Pferd und blickte finster in die Menge. Die Welt war verrückt geworden, und seine irische Vorstellungskraft reichte nicht aus, um zu begreifen, warum sein friedliches Leben sich in einen Alptraum verwandelt hatte. An einem Tag wie diesem hätte er ein Pferdegeschirr flicken oder einen Zaun ausbessern sollen. Er hätte mit den Fohlen gearbeitet oder eine Kuh aus einem Gestrüpp befreit. Warum trieb das Schicksal dieses grausame Spiel mit ihm und ließ ihn den furchtbaren Tod durch den Strang sterben?
    Wütende Proteste brannten in Wills Kehle, doch er schluckte sie hinunter. Er würde die Beherrschung vor dem sensationslüsternen Mob nicht verlieren. Gierig, mit offenen Mäulern gafften sie ihn an, warteten nur darauf, das Knacken seines brechenden Genicks zu hören, die letzten Zuckungen seiner Gliedmaßen zu sehen. Sie hatten kein Recht, ihre Sensationslust an seinem Tod zu befriedigen; sie hatten kein Recht, ihn zu töten. Die glotzende Menge aber war nicht an der Wahrheit interessiert. Es kümmerte sie nicht, daß er eine Familie hatte, die seine Fürsorge brauchte. Will O’Connell lebte nicht nach den Regeln ›anständiger‹ Leute; deshalb war er schlecht. Da ein angesehener Bürger ihn des Mordes und der schweren Körperverletzung beschuldigte, war ein Prozeß unnötig – das Urteil stand fest: Tod durch den Strang.
    Will ließ seine Blicke über die gaffende Menge schweifen und fixierte einzelne Gesichter. Die Lehrerin Miß Samantha Edgar bedachte Zuschauer wie Opfer mit Mißbilligung. Er hatte ein einziges Mal mit ihr gesprochen – damals, als sie sich weigerte, Katy und Ellen in ihrer Schule aufzunehmen. Das feiste Gesicht des Schmieds John Miller war zu einem breiten Grinsen verzogen. Dies hier war wohl der größte Spaß, den er seit Jahren erlebte. Der Lebensmittelhändler Mecham Tully machte eine angemessen feierliche Miene. Doch keiner der Leute, mit denen Will geschäftlich zu tun hatte in den neun Jahren, in denen er Rinder und Pferde auf seiner Ranch am Rande von Virginia City züchtete, wäre bereit gewesen, etwas zu seiner Entlastung auszusagen.
    Der einzige Mensch, der für ihn eintreten würde, war nicht da. Die alte Witwe Casey hielt jeden, der von der grünen Insel kam, wenn nicht für unbescholten, so doch für erlösenswert. Katy und Ellen würden es bei der braven Seele gut haben.
    »Die Hinrichtung durch den Strang findet unmittelbar nach dem Verlesen der Anklage statt!«
    Bei Marshal Kales Ankündigung senkte sich gespanntes Schweigen über die Menge.
    »Will O’Connell wird des Mordes an Buck Candliss, einem angesehenen Bürger von Virginia City, für schuldig befunden. Des weiteren wird der Angeklagte beschuldigt, Bucks Bruder Ace ins Bein geschossen zu haben. Der bedauernswerte Mann wird den Rest seines Lebens ein Krüppel sein.«
    Will lächelte grimmig. Er hatte tatsächlich auf die Schufte geschossen, doch sein einziges Verbrechen bestand darin, daß seine Treffsicherheit bei Ace weniger genau war als bei Buck. Bucks Tod war die einzige Genugtuung in seiner ausweglosen Lage.
    Der Marshal räuspere sich geräuschvoll. »Des weiteren wird Will O’Connell für schuldig befunden, die Schwarzfußindianersquaw, mit der er zusammenlebte, und die den Namen ›Frau der vielen Pferde‹ trug, getötet zu haben.«
    Der Name versetzte Will einen schmerzhaften Stich ins Herz. Er schloß die Augen, als könne er damit die Qual lindern. Er hatte sie Minnie genannt. Elf Jahre war sie seine Frau gewesen, doch für diese Leute war eine Schwarzfußhochzeit nichts als heidnischer Firlefanz und Minnie nur eine Squaw. Er sah ihre warmen, braunen Augen vor sich, ihr offenes Lächeln, das schwarzglänzende Haar, das ihr bis zu den Hüften hing. Als er sie das letzte Mal sah, war ihr Haar blutverschmiert, die braunen Augen glasig zu den Deckenbalken ihres Hauses gerichtet, der
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