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Die Medizinfrau

Die Medizinfrau

Titel: Die Medizinfrau
Autoren: Emily Carmichael
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Gemischtwarenhandlung, die einander überall glichen, ob in New York oder im wilden Montana – der warme Geruch nach Leder mischte sich mit der fruchtigen Süße, die den offenen Bonbonbehältern entströmte und dem würzigen Aroma von Tabak und frischem Holz. Der rauchende Nickelofen in der Ecke verbreitete wohlige Wärme gegen die Novemberkälte, bis ein neuer Kunde die Ladentür aufmachte und ein Schwall kalter Luft hereinwehte.
    Der Laden führte alles von Flitterkram für Damen bis zu Rundsieben, um Goldsand zu waschen; Kochgeschirre, Hacken, Picken und Schaufeln. In den Wandregalen stapelten sich Konserven – Trockenmilch, eingemachtes Obst, Gemüse und Fleisch. In Holzkisten lag schlaffes Gemüse, das mit der Eisenbahn aus wärmeren Gegenden herangeschafft wurde. In einem Glaskasten hinter der Kasse standen in alphabetischer Reihenfolge etikettierte Medizinfläschchen, von Arnikatropfen bis Whitcombs Weißdornsaft, gegen jedes erdenkliche körperliche Leiden und Gebrechen. Olivia musterte die farbenprächtigen Flaschen mißtrauisch, deren Aufschriften wundersame Heilkräfte versprachen. In ihrer Praxis in New York hatte sie festgestellt, was diese Tinkturen, vorwiegend aus hochprozentigem Alkohol bestehend, gelegentlich auch mit betäubenden Substanzen versetzt, bei arglosen Männern und Frauen anrichteten, die das Zeug für die ›Nerven‹, bei Magenbeschwerden oder allgemeiner Unpäßlichkeit einnahmen.
    »Wir führen ein komplettes Sortiment aller gängigen Medizinen, Dr. Baron.« Henry Shriner begleitete seine Worte mit einer stolzen Armbewegung zum Medizinschrank.
    »Das sehe ich, Mr. Shriner. Obwohl ich die Tinkturen nicht unbedingt als Medizinen bezeichnen würde, da sie mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken.«
    Ihre gleichmütige Bemerkung und ihr fester Blick brachten den Ladenbesitzer aus dem Konzept. Nicht das erste Mal stellte Olivia fest, daß Männer sich von einer Frau eingeschüchtert fühlten, die es wagte, ihnen direkt in die Augen zu sehen – sie waren zu sehr daran gewöhnt, daß Frauen sittsam die Augen niederschlugen.
    Er räusperte sich verlegen. »Nun, Dr. Cahill und der alte Doc Traleigh schicken mir immer wieder Patienten vorbei, um die Medizin zu kaufen. Unsere Ärzte scheinen Ihre Ansicht nicht zu teilen, Madam.«
    In der Stimme des Ladenbesitzers lag eine Herablassung, die Olivia nur zu gut kannte. Sie lächelte. »Wissen Sie, wo Mrs. Talbot ist? Ich habe sie aus den Augen verloren.«
    »Mrs. Talbot sieht sich im Hinterzimmer einen Ballen Baumwolldruck an. Soll ich Sie begleiten?«
    »Nein danke. Ich schau mich ein wenig um, bis sie fertig ist. Wenn sie nach mir fragt, ich bin drüben bei den Hüten.«
    »Gerne, Miß … äh … Doktor Baron.«
    Olivia konnte nicht widerstehen, einen Blick auf die Hüte zu werfen. Hüte waren ihre Leidenschaft, eine der wenigen weiblichen Neigungen, die sie sich zugestand. Eine Frau, die sich für ein Leben wissenschaftlicher Studien, der Aufopferung und des Dienstes am Nächsten entschieden hat, durfte sich gelegentlich ein Vergnügen gönnen.
    Die Kollektion neuer Hüte aus Helena konnte sich freilich nicht mit der modischen Vielfalt in New York messen. Sie probierte verschiedene Modelle an und musterte sich kritisch in dem ovalen Spiegel an der rohen Fichtenholzwand und entschied sich für einen schmalkrempigen, nicht zu auffälligen Strohhut. Das Modell erinnerte sie an Hütchen, die sie in Paris gesehen hatte. Mit dem Unterschied, daß die Pariserinnen ihre Hüte keck in die Stirn zogen und sich falsche Haare in ihre Nackenknoten flochten. Olivia zweifelte allerdings, daß sie eine ähnliche Wirkung erzielte mit dem Hut auf ihrer streng gescheitelten, schlichten Frisur.
    Schritte hinter ihr ließen sie Amys Rückkehr vermuten. Es war wohl angebracht, die Freundin um ihre Meinung zu fragen, bevor sie den Hut kaufte. Amy hatte ein weitaus geschulteres Auge für modische Dinge als Olivia.
    »Findest du das Ding zu keck, Amy? Ziemlich unpraktisch, glaube ich. Aber recht hübsch, oder?«
    »Ein ähnliches Ding hatte das Maultier eines Goldgräbers auf dem Kopf, dem ich gerade begegnet bin.«
    Der tiefe Bariton gehörte nicht Amy! Olivia fuhr mit hochrotem Gesicht herum und mußte den Kopf heben, um den tiefliegenden grünen Augen in einem sonnengebräunten Gesicht zu begegnen. »Pardon!«
    Ihr frostiger Ton ließ den Mann lächeln, der ihrem direkten Blick ohne zu blinzeln standhielt. »Sie wollten eine Meinung hören, und da niemand
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