Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau
Autoren: Britta Strauß
Vom Netzwerk:
sich nach ihm aus. Alles Irdische wurde gleichgültig, als die süße Stimme in seine Seele drang. Nichts wollte er mehr, als ihr zu folgen. Hinunter in die Tiefe.
    Immer fester krallten sich seine Hände um das kalte Eisen, immer schneller hämmerte sein Herz. Wie von selbst griff er nach dem Armband, das er seit über fünfzig Jahren trug. Es bestand aus Münzen, jede aus einem anderen Hafen dieser Welt und mit einer Erinnerung verknüpft. Überall dort, wo er als junger Matrose geliebt hatte, war eine Münze hinzugekommen. Sydney, Damaskus, Hawaii, Vancouver und Kapstadt. Nur eine Sekunde tat es weh, als er das Armband ins Wasser warf. Silbern blitzend torkelte es in die Tiefe, bis ihre Finger es auffingen.
    Er rief nach seiner Tochter, doch sie schien ihn nicht zu hören. Unter den Augen der Meerjungfrau ging er in die Knie. Ihre Schwanzflosse durchschnitt verspielt das Wasser, als er auf die Planken sank und nach Atem rang. Sie lächelte sanftmütig. Beharrlich auf seine Seele wartend. Das Herz des Alten flatterte noch einige Augenblicke, kämpferisch und nicht willens, nach sieben Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit aufzugeben. Doch die Macht der Sirene war stärker. Er spürte, wie sie mit jedem Wort, mit jedem Laut mehr Kontrolle über seinen Körper und sein Leben gewann.
    Die Stimme des Fischers war kaum mehr zu hören, als er zum letzten Mal den Namen seiner Tochter rief. Diesmal öffnete sich die Kajüte, doch im selben Augenblick wusste der Alte, dass die Meerjungfrau in den Wellen verschwunden war.
    „Nein“, wisperte er verzweifelt, wandte mit letzter Kraft den Kopf und suchte nach ihr. „Sie soll dich noch sehen. Sie sollan dich glauben.“
    Doch als das Herz des alten Fischers seinen letzten Schlag tat, waren nur noch die im Mondlicht schimmernden Wellen zu sehen. Die Tochter nahm ihren Vater in die Arme und rief nach ihm. Vergebens.
    Seine Seele würde auf dem Meer bleiben und nie wieder das Land erblicken.

Kapitel 1
Sehnsucht
    Denke daran, dass wir dazu bestimmt sind
,
    Seelen in das Meer zu locken
.
    Wer uns liebt, liebt seinen Tod
,
    Wer uns begehrt, begehrt seinen eigenen Untergang
.

Universität von St. Andrews, Schottland
    D ie Vorlesung neigte sich dem Ende zu. Christopher schaltete den Beamer aus, lehnte sich gegen das Pult und verschränkte die Arme vor der Brust. Befallen von einem Gefühl heftigen Bedauerns musterte er die Studentenschar. Hätten seine Schützlinge gewusst, welche Nachricht auf sie wartet, wären die Gesichter weit weniger entzückt gewesen. Doch er wollte ihnen noch etwas Zeit geben. Noch ein paar Minuten kostbarer Unwissenheit. Die Blicke aus neunundzwanzig Augenpaaren klebten an seinem Mund, jeder gierte danach, dass er seinen Vortrag wieder aufnahm. Diese uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die ihm ausnahmslos jeder seiner Studenten entgegenbrachte, weckte den Neid vieler Kollegen. Gerne behaupteten sie, die Zuneigung seiner Schützlinge verdanke er allein den oberflächlichen Attributen. Jung, gut aussehend, schwarze Haare, dunkelblaue Augen, und schon war alles andere zweitrangig.
    „Zur Abwechslung mal ein paar Fragen an Sie“, begann er nach einigen Momenten des Schweigens, legte die Hände zu einem Spitzdach zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. „Clare Fergusson, nennen Sie mir bitte die verschiedenen Schichten des freien Wassers.“
    Das Mädchen strahlte, dass es eine wahre Freude war. „Zuerst kommt das Epipelagial“, antwortete sie eifrig. „Dann das Mesopelagial, gefolgt vom Bathypelagial. Zuletzt haben wir das Abyssopelagial und das Hadopelagial.“
    „Vollkommen korrekt.“ Er hielt sein Gesicht in die warme Herbstsonne und fühlte sich wie in einem Traum. Doch es war kein schöner Traum, sondern eiskalte Wirklichkeit. Morgen früh würde er nach Skye zurückkehren. Zurück nach Hause, auf seine Insel. Aber seit zehn Tagen war es nicht mehr die Heimat, die er kannte. Es war nur noch ein unvollkommenes, seinem Herzstück beraubtes Fragment.
    „Dann können Sie mir mit Sicherheit auch sagen“, führte er weiter aus, „in welche produktionsbiologischen Zonen wir das Pelagial einteilen?“
    Clare stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab, umfasste ihr Gesicht und schmachtete ihn an. „Wir unterteilen das Pelagial in eine trophogene Zone und in eine tropholytische Zone“, antwortete sie mit säuselnder Stimme, was einige männliche Zuhörer veranlasste, die Augen zu verdrehen. „Ersteres wird auch Nährschicht genannt, zweiteres
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher