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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau
Autoren: Britta Strauß
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Zehrschicht.“
    „Sehr gut. Wie ich sehe, funktioniert euer Gedächtnis tadellos.“ Er stieß sich vom Pult ab und ging zum Fenster. Ihm wurde warm, die Wolle seines schwarzen Pullovers begann zu kratzen. Während er am Rollkragen herumzupfte, betrachtete er die im Sonnenlicht leuchtenden Wiesen mit ihren prächtigen Bäumen. Würde er jemals an diesen altehrwürdigen Ort zurückkehren? Die Wege des Schicksals waren unvorhersehbar, und doch flüsterte ihm sein Bauchgefühl ein, dass er diese Universität nie wiedersehen würde.
    Schwindel übermannte ihn, als er sich auf dem Fensterbrett abstützte. Er wusste, was das bedeutete und was als Nächstes geschehen würde. Kläglich versuchte er, sich dagegen zu wehren, doch der Sog war auch diesmal stärker. Das war nicht gut. Zum ersten Mal geschah es in aller Öffentlichkeit. Er musste standhalten … doch sein Geist driftete ab, als zwängte ihn etwas in einen oberflächlichen Schlaf. Stimmen säuselten in seinem Kopf, mal fern, mal nah, dabei so drängend, dass sich ihr Zischen und Raunen wie wirbelnde Eissplitter anfühlten.
    Hilf uns … komm zu uns

    Wir brauchen dich

    Abgehackte Bilder zuckten durch seinen Kopf. Eine dunkle, unauslotbare Tiefe, im Hintergrund die Silhouetten scharfkantiger Felsen, bewachsen mit Tiefseekorallen. Er sah bleiche Hände, die nach ihm griffen, schemenhafte Gesichter mit großen, schwarzen Augen und langem Haar. Zarte Finger, verbunden durch Schwimmhäute, tasteten über seinen Körper. Dann kam ein schwereloser Flug über einen im Meeresboden aufklaffenden Abgrund, während blaues Licht den Ozean flutete und seinen Augen immer mehr Details enthüllte. Gezackt wie eine Wunde zog sich der Tiefseegraben über den Meeresboden.Gesang drang aus dessen Tiefe hervor. Wunderschöner, bezaubernder Gesang, in dem Verzweiflung lag.
    Hilf uns … sie kommen immer näher … wir sterben

    Ein lautes Klappern ließ Christopher zusammenfahren. Schwer atmend fand er sich am Fenster lehnend vor, eine Hand auf der Stirn, die andere auf seiner Brust. Ein Blick auf die Uhr über der Tür sagte ihm, dass nur wenige Sekunden vergangen waren. Sein Herz raste. Ein Junge in der obersten Reihe hatte seine Thermosflasche heruntergeworfen, hob sie auf und verstaute sie mit hochroten Ohren in seinem Rucksack.
    „Dr. Jacobsen, geht es Ihnen nicht gut?“
    Die beiden Studentinnen, die ihm am nächsten waren, musterten ihn aus geweiteten Augen. Hilfsbereit stand eine auf und wollte zu ihm kommen, aber er hielt sie mit einer abwehrenden Geste auf Abstand.
    „Nein. Doch. Alles bestens. Danke.“ Mit vorsichtigen Schritten ging er zum Pult zurück und atmete tief durch. Nur noch ein fernes Echo der Stimmen wehte durch seine Wahrnehmung. Der Schwindel wich so schnell, wie er gekommen war, doch er hinterließ ein Gefühl von Erschöpfung. Die Visionen, oder wie auch immer man sie nennen mochte, wurden mit jedem Mal kräftezehrender.
    „Kommen wir zum Fazit des Ganzen.“ Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Es war wohl besser, den Rest seiner Vorlesung sitzend abzuhalten. „Die Welt, mit der wir uns heute beschäftigt haben, ist eine sterbende. Neunzehnhundertzweiundneunzig brachen die Kabeljaubestände vor der Küste Neufundlands ein. Vierzigtausend kanadische Fischer verloren praktisch über Nacht ihren Lebensunterhalt. Der ehemals reichste Fischbestand der Welt war durch rüde Fangmethoden irreparabel zusammengebrochen und hat sich trotz Schutzmaßnahmen bis heute nicht erholt. Dem begehrten Blauflossen-Thunfisch lauert man alljährlich auf seiner Wanderung zu den Laichgründen in der Straße von Gibraltar auf, um ihn abzufangen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Fangquote um mehr als achtzig Prozent verringert, doch das Massaker geht weiter. Die Weltbevölkerung wächst, und mit ihr der Hunger nach den Früchten des Meeres. Gleichzeitig werden jedes Jahr neununddreißig Millionen Tonnen an Beifang tot ins Meer zurückgeworfen, weil das Gesetz verlangt, dass ein Schiff nur bestimmte Fischarten fangen und an Land bringen darf.
    Führen Sie sich vor Augen, dass dreizehn Jumbojets in einem einzigen Schleppnetz Platz finden würden. Fangleinen mit über einer Million Haken werden ausgebracht und sind so lang, dass man sie fünfhundert Mal um diesen Planeten wickeln könnte. Die Schutzmaßnahmen, die man ergreift, können dank Korruption, Geldgier und Lobbyismus nur als lächerlich bezeichnet werden. Bleibt es beim heutigen Stand der Dinge, gibt
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