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Der Skorpion von Ipet-Isut

Der Skorpion von Ipet-Isut

Titel: Der Skorpion von Ipet-Isut
Autoren: Anke Napp
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Prolog
    Rücksichtslos zerrte die Frau in dem sorgfältig plissierten Gewand das Kind, ein etwa vierjähriger Junge, mit sich durch das hektische Treiben der erwachenden Stadt. Sie hasste diesen Balg, sie hasste ihr Leben und all die Götter Kemets. Wenigstens von einem dieser Dinge wollte sie sich heute befreien! 
    Nicht in der Lage, mit der Eile seiner Mutter Schritt zu halten, stolperte der Junge und schlug der Länge nach in den Straßendreck. Begleitet von einer Schimpfkanonade wurde er wieder auf die Füße gerissen. Er weinte nicht, schrie nicht, starrte nur mit fest zusammen gepressten Lippen zu Boden. Er war stur und sehr stolz für sein Alter. Es war alles, was er überhaupt hatte. 
    Wenig später erreichten Frau und Kind ein Tor, das sich in einer gewaltigen Mauer öffnete. Der Junge hob den Kopf, blinzelte gegen die Sonne und musterte furchtlos die Wächter am Eingang.
    „Was willst du, Frau?“ murrte einer von ihnen unwillig. „Die Almosen werden erst am Mittag verteilt!“
    „Ich habe eine Bitte an den Ersten Gottesdiener!“
    „Der Erhabene ist für solche wie dich nicht zu sprechen!“
    Der Junge wunderte sich über die barsche Antwort – normalerweise hörte er die Männer freundlicher sprechen, wenn sie zu seiner Mutter kamen. Er sah, wie ein kleiner Beutel mit klirrendem Inhalt und drei Armreifen seiner Mutter den Besitzer wechselten. Dann war sein kindlicher Geist eine Weile lang von den balgenden Katzen in der Nachbargasse abgelenkt, bis der Schatten einer weiteren Person auf ihn fiel. Einer Ehrfurcht gebietenden Person! Die Augen des Jungen wanderten nach oben einen goldenen Amtsstab und ein blendend weißes Gewand entlang, bis sie ein faltiges Gesicht erfassten, das sich mit Widerwillen ihm zugewandt hatte.
    „Ich will dieses Kind der Fürsorge Amuns anvertrauen“, erklang wieder die Stimme seiner Mutter. Der Junge hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Aber er hörte erneut das Klirren von Schmuckstücken. Im nächsten Moment ließ ihn seine Mutter los, wandte sich mit eiligen Schritten zurück auf den Weg den sie gekommen war. Das Kind stand reglos. Es sah keinen Grund, der Frau zu folgen, die ihn bisher nur geschlagen hatte. Die Hand des Ehrfurcht Gebietenden senkte sich auf seine Schulter und schob ihn vorwärts durch das Tor. In eine neue Welt! Die großen schwarzen Augen des Jungen weiteten sich, als er in der Morgensonne strahlenden Malereien der Wände und die gewaltigen Fahnenmasten erblickte.
    Ipet-Isut.
    Der Heiligste Ort Kemets! 
    Der Thron des Großen Amun-Ra! 

Kapitel 1
    Etwa 35 Jahre später - 
    „Tameri!“
    Die helle Frauenstimme klang durch die Gebäude eines Bauernhofes vor den Toren Wasets. Die umgebende hohe Mauer verhieß einen gewissen Reichtum der Menschen, die hier wohnten. Der Seneb-Re-Hof  genoss einen Ruf unter Kennerkreisen wegen seiner Pferdezucht. Sogar dem Pharao hatte der Hausherr schon einige seiner Tiere verkauft, als Gespanne für die Streitwagen. Einen Platz unter den Edlen der Stadt hätte Barkos einnehmen können, wenn er dies gewollt hätte, aber er war eher bestrebt, sich fern zu halten von den Einheimischen, auch wenn er ihnen mit Höflichkeit begegnete. Aber dies war nicht seine Heimat, und das wollte er niemals vergessen. Krieg hatte ihn und seine Familie vor Jahrzehnten vertrieben, ihn als Flüchtling mit kaum mehr als Nichts hier stranden lassen. Die Zeit hatte seine Sehnsucht nach der alten Heimat nicht verwittern und welken lassen – im Gegenteil! Und er war bestrebt gewesen, diese Sehnsucht auch in seiner Tochter zu wecken, die hier geboren worden war...
    „Tameri, wo bist du?“
    Die Angerufene legte den Flachskamm und die Wolle aus den Händen, sah von ihrer Arbeit auf. Debora, die Tochter des Hausherrn, kam auf sie zugelaufen. 
    „Tameri, kommst du mit mir die Prozession ansehen? Die Fahrt der Amunbarke von Ipet-Isut in die Totenstadt nach West-Waset?“
    Die ältere Frau strich die längst mit grauen Fäden durchsetzten Haare zurück und runzelte besorgt die Stirn. Debora hatte die schier unbezähmbare Neugier ebenso von ihrer Mutter geerbt wie deren flammenrotes Haar. Etwas, das Tameri nicht als gutes Vorzeichen betrachtete… Sagte nicht auch der Hausherr immer, dass ein Mädchen sittsam zu Hause zu bleiben habe, anstatt herum zu strolchen? Nun, Barkos mochte es ohnehin nicht leiden, dass seine Tochter ein so großes Interesse am Leben und den Bräuchen der Kinder Kemets hatte. Außerdem war Debora im heiratsfähigen
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