Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary
Autoren: Woelffe
Vom Netzwerk:
als
diesem lieb ist. Das arme Waisenkind!
    Master Stephen ärgert sich
über alles, was seine persönlichen Umstände betrifft. Er ärgert sich darüber,
dass er ein nicht anerkannter Vetter des Königs ist. Er ärgert sich darüber,
dass er Geistlicher werden musste, obwohl die Kirche es gut mit ihm gemeint
hat. Er ärgert sich über die Tatsache, dass jemand anders nächtliche Gespräche
mit dem Kardinal führt, dessen Privatsekretär er selbst ist. Er ärgert sich
über die Tatsache, dass er zu jenen hochgewachsenen Männern gehört, deren Größe
nicht viel aussagt, weil nichts dahintersteckt, und er ärgert sich über das
Wissen, dass, wenn sie in einer dunklen Nacht aufeinanderträfen, Master Thos.
Cromwell derjenige wäre, der davonkäme, sich die Hände säubern und dabei
lächeln würde.
    »Gott segne Sie«, sagt
Gardiner und tritt in die für April ungewöhnlich warme Nacht hinaus.
    Cromwell sagt: »Danke.«
     
    Der Kardinal ist mit Schreiben
beschäftigt und sagt, ohne aufzusehen: »Thomas. Regnet es noch? Ich habe Sie
früher erwartet.«
    Bootsführer. Fluss. Heilige.
Seit dem frühen Morgen war er unterwegs, und den überwiegenden Teil der
letzten zwei Wochen hat er in Angelegenheiten des Kardinals im Sattel
verbracht; und nun ist er in Etappen - keinen leichten Etappen - von Yorkshire
heruntergekommen. Er war bei seinen Schreibern in Grays Inn und hat sich Wäsche zum
Wechseln geliehen. Er war im Osten der Stadt, um zu hören, welche Schiffe
eingelaufen sind, und den Aufenthaltsort einer inoffiziellen Warensendung zu
ermitteln, die er erwartet. Aber er hat noch nicht gegessen, und zu Hause war
er auch noch nicht.
    Der Kardinal erhebt sich. Er
öffnet eine Tür, spricht mit den Dienern, die dahinter warten. »Kirschen! Was,
keine Kirschen? April, sagt ihr? Erst April? Dann werden wir wohl große Mühe
damit haben, meinen Gast zu beschwichtigen.« Er seufzt. »Bringt, was ihr habt.
Aber seid euch klar, dass es auf keinen Fall genügen wird. Warum werde ich nur
so schlecht bedient?«
    Auf einmal ist der ganze Raum
in Bewegung: Speisen, Wein, ein Feuer wird entzündet. Ein Mann nimmt ihm
besorgt murmelnd die nassen Überkleider ab. Alle Hausdiener des Kardinals sind
so: zuvorkommend, kaum vernehmbar, devot; beständig werden sie zurechtgewiesen.
Und alle Besucher des Kardinals werden auf dieselbe Weise behandelt. Hätte ihn
jemand zehn Jahre lang jede Nacht gestört, um dann schmollend und mürrisch
dazusitzen, wäre er trotzdem noch sein geschätzter Gast.
    Die Diener machen sich
unsichtbar, verschwinden in Richtung Tür. »Wünschen Sie sonst noch etwas?«,
sagt der Kardinal.
    »Dass die Sonne aufgeht?«
    »Um diese Zeit? Sie
überschätzen meine Fähigkeiten.«
    »Die Dämmerung würde reichen.«
    Der Kardinal nickt den Dienern
zu. »Um diese Bitte kümmere ich mich selbst«, sagt er ernst; sie entgegnen ein
ernsthaftes Murmeln und verschwinden.
    Der Kardinal faltet die Hände.
Er stößt einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus wie ein Leopard, der sich an
einem warmen Plätzchen niederlässt. Er betrachtet seinen Mann für die
Geschäfte; sein Mann für die Geschäfte betrachtet ihn. Mit fünfundfünfzig sieht
er immer noch so gut aus wie in der Blüte seiner Jahre. Heute Abend trägt er
nicht das alltägliche Scharlachrot, sondern dunkles Violett und feine weiße
Spitze: wie ein einfacher Bischof. Seine Körpergröße beeindruckt; sein Bauch —
der von Rechts wegen eigentlich einem unbeweglicheren Mann gehören müsste —
ist bloß ein weiterer fürstlicher Aspekt seines Wesens, und auf ihn legt er oft
vertrauensvoll eine große, weiße, beringte Hand. Ein großer Kopf — sicherlich
von Gott dazu geschaffen, die päpstliche Tiara zu tragen - thront eindrucksvoll
auf breiten Schultern: Schultern, auf denen (wenn auch nicht in diesem
Augenblick) die große Kette des Lordkanzlers von England ruht. Der Kopf neigt
sich; mit jener honigsüßen Stimme, die von hier bis Wien Bekanntheit genießt,
sagt der Kardinal: »Nun dann, erzählen Sie mir, wie Yorkshire war.«
    »Schmutzig.« Er setzt sich.
»Wetter. Leute. Manieren. Moral.«
    »Nun, ich vermute, Sie haben
den richtigen Ort gewählt, um sich zu beklagen. Obwohl ich bereits mit Gott
wegen des Wetters in Verhandlung stehe.«
    »Ach, und das Essen. Fünf
Meilen im Landesinneren und kein frischer Fisch.«
    »Und kaum Hoffnung auf eine
Zitrone, vermute ich. Was essen sie dort?«
    »Londoner, wenn sie welche
bekommen können. Sie haben noch nie solche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher